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Der Wolf

Der Wolf

Titel: Der Wolf
Autoren: John Katzenbach
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wirklich Sorgen um ihr Herz.«

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    Epilog
    E r nahm den Revolver und klappte die Trommel auf. Es war eine Smith & Wesson, Kaliber . 38 mit kurzem Lauf, wie sie in der Noir-Literatur der vierziger und fünfziger Jahre typischerweise die Kommissare bevorzugten, da sie bequem in ein Achselholster passte, das sie dezent unter dem Jackett verstecken konnten. Ein Anzug mit Schulterpolstern und eng zulaufenden Hosen, dachte der Böse Wolf. Ermittler, die flotte weiche Filzhüte auf dem Kopf trugen und Dinge sagten wie: »Vergiss es, Jake. Das hier ist Chinatown.«
    Der Böse Wolf wusste, dass es eine unpassende Waffe war, dafür aber mit einer großen Durchschlagskraft auf kurze Distanz. Sie war kaum noch in Umlauf. Heutzutage bevorzugten die echten Cops schwerere halbautomatische Pistolen, mit mehr Patronen und einer größeren Wirkung auf alle Entfernungen. Er hatte diese Waffe bei einem privaten Händler in der Nähe von Vermont gekauft und wegen ihres ein wenig antiken, romantischen Appeals einen Aufpreis bezahlt. Als er Bares sah, hatte der Mann sich nicht mit Fragen aufgehalten.
    Der Böse Wolf nahm fünf der sechs Kugeln aus der Trommel und stellte sie in Reih und Glied vor sich auf. Seit über einem Monat tat er das Morgen für Morgen.
    Dann klappte er die Waffe mit einem laut vernehmlichen Klicken zu.
    Er streckte die Arme aus und hielt inne.
    Hemingway, Mishima, Kosinski, Brautigan, Thompson, Plath, Sexton. Er legte eine kurze Gedenkminute für sie und all die anderen ein.
    Ein plötzlicher Stich in der Brust ließ ihn heftig zusammenzucken. Irgendwo in seinem Viertel hörte er eine Sirene. Polizei, Feuerwehr, Krankenwagen – er konnte sie nicht unterscheiden. Er vergaß zu atmen, während er horchte. Die Sirene wurde lauter, kam näher, bis sie sich, zu seiner großen Erleichterung, in die andere Richtung entfernte und irgendwann verstummte.
    Der Böse Wolf durchquerte das Schlafzimmer und starrte in den großen Spiegel.
    Er hob die Waffe und setzte die Mündung an die Schläfe. Er zog mit dem Daumen den Hahn zurück und spielte mit dem Zeigefinger am Abzug. Wie viel Druck wohl nötig war, um abzufeuern? Ein kräftiger Ruck oder eine zarte Berührung? Gut dreißig Sekunden blieb er so stehen. Dann wechselte er die Stellung und steckte sich den Lauf in den Mund. Er schmeckte das bittere Metall auf der Zunge. Noch einmal dreißig Sekunden verstrichen. Dann setzte er die Waffe in einem Ritual, das ihm inzwischen so wie das Haarekämmen oder Zähneputzen zur festen Gewohnheit geworden war, ein drittes Mal an, diesmal am weichen Fleisch unter dem Kinn.
    Wieder blieb er so lange reglos stehen, bis er nicht mehr wusste, ob es Sekunden, Minuten oder gar Stunden waren. Als er die Waffe langsam sinken ließ, sah er an der Stelle, wo sich ihm der Lauf in die Haut gedrückt hatte, eine rötliche Vertiefung.
    Mit beiden Händen stützte er sich auf die Frisierkommode und betrachtete sich weiter im Spiegel.
    Er hatte das Gefühl, als blickte er in das Gesicht eines Fremden.
    So wie die Sirene verhallt war, schien auch er langsam zu verblassen. Er wusste, dass er in absehbarer Zeit ganz aus seinem Blick verschwinden würde. Und wenn dieser Moment gekommen war, würde er abdrücken.
     
    Mrs. Böser Wolf starrte durch das Bürofenster auf die Abschlussfeier, die im Innenhof begann. Sie konnte sich nicht aufraffen hinunterzugehen, obwohl ihr Chef, der Direktor, sie ausdrücklich dazu ermuntert hatte. Sie riss das Fenster auf, so dass sie von oben die Dudelsackspieler hören konnte, die mit Glanz und Gloria die Absolventen zu ihren Stühlen begleiteten.
    Durch das dichte grüne Blätterwerk der Bäume, die sich an diesem schönen Junimorgen in der sonnigen Brise wiegten, ließ Mrs. Böser Wolf den Blick über die Reihen der Eltern, Freunde und Familien schweifen, die zu Ehren der Absolventen erschienen waren. Sie brauchte nicht lange, um die beiden rothaarigen Frauen zu erspähen. Sie saßen nebeneinander und beobachteten die Dritte im Bunde, die glücklich auf die Bühne stolzierte, um ihr Zeugnis in Empfang zu nehmen.
    Das Schöne an den Abschlussfeiern ist, dachte Mrs. Böser Wolf, dass sich dabei alles um die Zukunft dreht.
    Ohne das Fenster zu schließen, kehrte sie zu ihrem Schreibtisch zurück. Sie hatte viele einsame Tage und Nächte verbracht, seit sie das Isolierband an Händen und Füßen gerade noch rechtzeitig aufgeschnitten hatte, um, wie die Ärztin gesagt hatte, pünktlich zur Arbeit zu kommen.
    Mit ihrem
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