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Der Wolf

Der Wolf

Titel: Der Wolf
Autoren: John Katzenbach
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Flüstern. »Uns.«
    Jordan war außer sich vor Wut. Sie packte Karen an der Schulter und schüttelte sie. »Wir müssen ihn töten!«, sagte sie heiser. »Uns bleibt gar keine andere Wahl!«
    Karen antwortete nicht. Sie hatte nur einen Gedanken:
Wie kämen wir damit durch? Er ist der Mörder, nicht wir.
    Kraftlos hingen ihre Schultern herab. Jordan ließ sie los, und mit einem heftigen, gequälten Schrei sprang sie auf und machte sich daran, die Bilder von den Wänden zu reißen. Jeder Zeitplan, jede Dokumentation ihres Lebens wurde zerfetzt. Kein Detail des Gebildes an der Wand blieb verschont. Während sie tiefe Laute ausstieß, ohne dass Karen Worte ausmachen konnte, flogen die Fetzen.
    Sie streckte die Hand aus, um Jordan in ihrer Zerstörungswut zu bremsen, doch dann überlegte sie es sich anders. Sie packte mit an, schnappte sich ein Foto und warf die Schnipsel wie Konfetti in den Raum, als könnten sie sich retten, indem sie alles vernichteten, was der Wolf aufgebaut hatte, um sie zu töten.
    Während Jordan weiter wie besinnungslos auf die Galerie von Fotos und Dokumenten losging und die Schnipsel ihrer geplanten Ermordung über den Boden verstreute, drehte sich Karen zum Schreibtisch um und entdeckte den Computer und einen Stapel Manuskriptseiten unter einem ledernen Album. Sie griff nach ihrer Fischkeule, um den Bildschirm zu zerschmettern, als Jordan sagte: »Moment.«
    Sie hielt die Keule über dem Kopf.
    »Wenn das alles hier an den Wänden war«, sagte sie und zeigte auf das Schlachtfeld am Boden, »ist vielleicht noch mehr da drauf?« Jordan zeigte auf den Laptop.
    Karen nickte. Wieder holte sie mit der Keule aus.
    »Was noch?«, fragte Jordan.
    Und im selben Moment kam Karen die Antwort.

[home]
    43
    D reierlei breitete Karen unmittelbar vor dem Bösen Wolf auf dem Boden aus. Wäre er in der Lage gewesen, den Fuß auszustrecken, hätte er sie mit den Zehen berühren können.
    Seinen Laptop.
    Sein Manuskript.
    Sein Album.
    Sie sagte nichts. Sie wollte nur, dass der Böse Wolf sich diese Dinge ein paar Minuten lang ansah und begriff, was sie damit anstellen konnte.
    Er wechselte mit sichtlichem Unbehagen die Stellung.
    Hat jemals jemand eine solche Nacht mit einem Serienmörder verbracht und überlebt?,
fragte sich Karen. Sie hegte den Verdacht, dass die Antwort negativ ausfiel.
    Sie betrachtete den Wolf mit einem schiefen Grinsen, das ihn, wie sie hoffte, noch mehr aus der Fassung bringen würde. Innerlich warnte sie sich:
Treib ihn in die Enge, aber mit Augenmaß. Tu was, aber übertreibe nicht. An der Uni habe ich nicht das Geringste über die Bühne gelernt, das musste ich mir selbst beibringen.
Sie hätte gerne gewusst, ob je ein Komiker einem derart feindseligen Publikum gegenübergestanden hatte.
    Sie ließ Rote Zwei und Rote Drei bei den Wölfen, während sie zuerst in die Küche und dann ins Bad ging. Sie fand prompt, was sie suchte. Kleine Plastiktüten. Eine Schere. Ein großes Brotmesser. Wattestäbchen. Einen schwarzen Marker.
    Als sie ins Wohnzimmer zurückkehrte, hätte man meinen können, sie wäre kurz einkaufen gewesen. Obwohl ihr von dem Faustschlag die Rippen pochten, grinste sie, und als sie sich dem Bösen Wolf zuwandte, ließ sie ihn spüren, dass sämtliche Zweifel, die sie eben noch gehegt haben mochte, verflogen waren. Dies alles war gespielt, doch sie hatte Erfahrung darin, sich von einer widerspenstigen Meute nicht die Schau stehlen zu lassen.
Reiße ungerührt deine Witze. Behalte die Oberhand. Verweise den Zwischenrufer oder den Störenfried in seine Schranken. Du hast das Sagen.
Die anderen beiden Roten konnten ihre Neugier kaum verbergen. Sie hatten keine Ahnung, was Karen im Schilde führte.
    Sie fing an, ein paar Takte eines Hits aus den Sechzigern zu summen. Egal wie schräg es klingen mochte, konnte sie darauf zählen, dass der Böse Wolf den Song erkennen würde, den
Sam the Sham and the Pharaohs
berühmt gemacht hatten: den Rotkäppchensong »Hey Little Red Riding Hood«. Sie wollte ihn damit verunsichern.
    Sie wartete einen Moment und fragte dann: »Also, wie viele Menschen hast du umgebracht?«
    Der Böse Wolf antwortete nicht sofort. Er kniff die Augen zusammen und grinste noch breiter. Er schien wieder Oberwasser zu haben. Auch wenn er an Händen und Füßen gefesselt war, verwickelte ihn Rote Eins in ein Gespräch. Das war verführerisch.
    »Keinen. Einen. Hundert. Was schätzt du?«, antwortete er.
    Karen musterte den Wolf. Sie versuchte, irgendeinen Zug in
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