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Der Wolf

Der Wolf

Titel: Der Wolf
Autoren: John Katzenbach
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fünfzehn Jahre her, seit er das letzte druckreife Wort geschrieben oder einen unschuldigen Menschen getötet hatte, und der erzwungene Ruhestand war ihm ein Greuel.
    Nächstes Jahr würde er fünfundsechzig, und er rechnete nicht damit, noch allzu lange zu leben. Der Realist in ihm rief sich ins Gedächtnis, dass ein hohes Alter nicht in seinen Genen lag, auch wenn er äußerlich in bester Form war. Seine beiden Eltern waren mit Anfang sechzig an Karzinomen gestorben, seine Großmutter mütterlicherseits im selben Alter an Herzversagen, und so stand zu vermuten, dass auch ihm nicht mehr viel Zeit blieb. Obwohl er schon seit Jahren nicht mehr beim Arzt gewesen war, registrierte er seltsame Dauerbeschwerden, kurze, stechende, unerklärliche Schmerzen und eine seltsame Erschöpfung im ganzen Körper – klare Indizien seines Alterns und mögliche Hinweise darauf, dass in ihm etwas weit Schlimmeres heranwuchs. Vor vielen Monaten hatte er alles gelesen, was der berühmte Schriftsteller Anthony Burgess in jenem überaus produktiven Jahr zu Papier gebracht hatte, in dem man bei ihm – irrtümlicherweise – einen inoperablen, bösartigen Hirntumor festgestellt hatte. Auch ohne die Bescheinigung durch einen Arzt glaubte er, dass er in einer ähnlichen Situation stecken könnte, nur dass es bei ihm keine Fehldiagnose gab. Woran auch immer er litt, es war tödlich.
    Und so war sein Entschluss gereift, in der ihm verbleibenden Zeit – seien es zwanzig Tage, zwanzig Wochen oder zwanzig Monate – etwas absolut Bedeutsames zu hinterlassen. Er musste etwas so Denkwürdiges, so Unvergessliches vollbringen, von dem man noch sprach, wenn er längst von dieser Erde abgetreten war und in der Hölle schmorte, falls es sie denn gab. Mit einem gewissen Stolz ging er fest davon aus, dass er unter den Verdammten einen Ehrenplatz einnehmen würde.
    Und so fühlte er sich an dem Abend, an dem er seinen letzten Geniestreich als krönenden Abschluss in Angriff nahm, nach langer Zeit endlich einmal wieder so aufgeregt wie ein Kind vor Weihnachten. Nach der langen, erzwungenen Abstinenz eine letzte Runde zu spielen und sich mit seinem Meisterwerk ein Denkmal zu setzen erfüllte ihn mit tiefer Befriedigung.
    Perfekte Verbrechen gab es selten, doch sie kamen vor. Gewöhnlich waren sie weniger dem Genie der Kriminellen geschuldet als der zuverlässigen Inkompetenz der Ermittlungsbehörden, und normalerweise lief es auf die banale Frage hinaus, ob der Täter damit durchkam oder nicht.
Zufällig
perfekte Morde wäre wohl die angemessenere Bezeichnung, denn mit einem Mord ungeschoren davonzukommen war eigentlich keine allzu große Herausforderung. Echte perfekte Verbrechen dagegen bildeten eine Klasse für sich, und er hegte keinen Zweifel daran, dass er sich auf dem besten Wege dahin befand. Sein ausgeklügelter Plan würde ihm auf vielfältige Weise Befriedigung verschaffen.
    Wenn dir das gelingt, dachte er genüsslich, wirst du Schulstoff. Sie diskutieren in Fernsehrunden darüber. Sie drehen Filme über dich. In hundert Jahren bist du so bekannt wie Billy the Kid oder Jack the Ripper. Vielleicht singt sogar irgendjemand ein Lied über dich. Keinen eingängigen, melodiösen Folksong. Eher Heavy Metal.
    Mehr als irgendetwas sonst hasste er es, sich durchschnittlich zu fühlen.
    Er hatte ein dringendes Verlangen nach unsterblichem Ruhm. Wann immer er im Lauf seines Lebens für kurze Zeit in den Genuss mäßiger Berühmtheit gelangt war, hatte er sich wie im Rausch gefühlt, nur dass auf jedes High die drückende Alltagsroutine gefolgt war. Er konnte sich genau erinnern, fast fünfzig Jahre war das jetzt her, wie er an der Highschool beim Football in einem Endrundenspiel im entscheidenden Moment den Ball erobert hatte. In den folgenden Tagen war er im Sportteil der Zeitung aus der Anonymität des Abwehrspielers zu plötzlichem Heldenstatus aufgestiegen und hatte eine Woche lang in den trostlosen Korridoren der Schule neidische Blicke und anerkennendes Schulterklopfen auf sich gelenkt – bis die Mannschaft am folgenden Freitagabend verlor. Später dann gewann er während seines vierjährigen, halbherzigen Studiums in einem Essaywettbewerb, der am College ausgetragen wurde, einen mit fünfhundert Dollar dotierten Preis. Sein Thema war: Wieso Kafka heute wichtiger ist denn je. Als er das Semester mit Bestnote abschloss, wurde er vom Direktor des Anglistik-Instituts besonders gewürdigt. »Scharfsinnige Argumentation und eloquenter Ausdruck«,
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