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Der Wolf

Der Wolf

Titel: Der Wolf
Autoren: John Katzenbach
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er eine Art Vakuum bei ihr hinterlassen, das sie mit den spärlichen Informationen füllen musste. Dudelsack. Iowa. Sie hatte keine Ahnung, wie das zusammenpasste. Er war unter Fremden gestorben, wie freundlich die Hospizschwestern auch waren oder wie einfühlsam sie selbst gewesen sein mochte. Sie gab der Versuchung nach, zu spekulieren und sich eine Geschichte auszudenken, die ihre Neugier befriedigte.
    Den Dudelsack hatte er zum ersten Mal in seiner Kindheit gehört, als ein neuer Nachbar aus Glasgow in das verwitterte Haus nebenan zog. Der Mann trank schon mal ein wenig über den Durst, und dann packte ihn das Heimweh. Wenn ihn die Sehnsucht erwischte, holte er sein Instrument aus einem Wandschrank und spielte es in der Abenddämmerung, während über dem flachen Horizont von Iowa die Sonne unterging. Der Mann vermisste die grünen Hügel und Täler seiner Heimat. Mister Wilson – der natürlich noch nicht Mister Wilson war – lag derweil in seinem Kinderzimmer und lauschte den vollen Klängen, die durch das geöffnete Fenster drangen. »Scotland the Brave« oder »Blue Bonnet«. Daher rührte Mister Wilsons Faszination. Gut möglich, dass es so gewesen war, befand Karen.
    Sie überlegte. Gab das etwas für eine Nummer her?
Ich habe also einen sterbenden alten Mann begleitet, der Dudelsackmusik liebte …
könnte sie es so drehen, dass ihm die eigentümlichen Klänge des Instruments den Tod gebracht hatten und nicht die Gesetzmäßigkeiten des Alters?
    Der Wagen kam knirschend vor der Haustür zum Stehen. Sie schnappte sich Aktentasche, Mantel sowie die Post und eilte voll bepackt durch die trübe Dunkelheit des nasskalten Abends zu ihrem Haus.
    Die beiden Katzen kamen ihr zur Begrüßung gemächlich entgegen, wohl halb aus Neugier, halb aus Fressgier. Karen ging sofort in die Küche, um ihnen den Napf mit frischem Trockenfutter zu füllen, sich ein Glas Weißwein einzugießen und dann zu sehen, welche Reste im Kühlschrank nicht so lebensbedrohlich verdorben waren, dass sie sich davon etwas zum Abendessen aufwärmen konnte. Sie interessierte sich nicht sehr fürs Essen, was dabei half, drahtig zu bleiben, obwohl sie die fünfzig überschritten hatte. Sie ließ den Mantel auf eine Bank fallen und stellte ihre Aktentasche daneben. Dann lief sie zum Mülleimer, um die Post auszusortieren. Der Brief, der durch nichts weiter gekennzeichnet war als den New Yorker Poststempel, steckte zwischen einer Strom- und einer Telefonrechnung, zwei Werbebriefen für Kreditkarten, die sie nicht brauchte oder wollte, sowie Spendenaufrufen der Demokraten, der Ärzte ohne Grenzen und von Greenpeace.
    Karen legte die Rechnungen auf eine Arbeitsplatte, warf die Werbung in den Papiermüll und riss den anonymen Umschlag auf.
    Als sie die Nachricht las, zuckten ihre Finger, und sie schnappte laut nach Luft.
    Dabei war sie von dem, was sie las, nicht einmal richtig schockiert.
    Auch wenn sie wusste, dass sie allen Grund dazu hatte.
     
    Als sie zu Rote Zwei wurde, war Sarah Locksley gerade nackt. Sie hatte zuerst die Hose ausgezogen, dann den Pullover und beides neben sich auf den Boden geworfen. Von ihrem gewohnten nachmittäglichen Cocktail aus Wodka und Barbituraten war sie ein wenig betrunken und betäubt, als der Briefträger ihr die Post durch den Schlitz in ihrer Haustür warf. Sie hörte, wie der Stapel Briefe in der Diele auf den Holzboden klatschte, und wusste, dass auf den meisten
Zweite Mahnung
oder
Letzte Mahnung
stand.
    Dieser täglichen Flut an Zahlungs- und anderen Aufforderungen schenkte sie nicht die geringste Beachtung. Als sie aufstand, erhaschte sie einen Blick auf ihr Spiegelbild im Fernsehbildschirm und kam zu dem Schluss, keine halben Sachen zu machen. Also streifte sie den BH ab, schlüpfte aus dem Höschen und warf alles schwungvoll auf das Sofa in ihrer Nähe. Dann drehte sie sich vor dem Bildschirm nach links und nach rechts, um festzustellen, wie wenig von ihr übrig geblieben war. Sie fühlte sich dürr und ausgemergelt, entschieden zu dünn, und zwar nicht von einem besessenen Aerobictraining im Fitnessclub oder regelmäßigen Marathonläufen. Sie wusste, dass sie einmal sexy gewesen war und dass sie nur aus Verzweiflung so stark abgenommen hatte.
    Sarah schaltete den Fernseher ein, und im selben Moment wich ihr eigenes Bild auf der Mattscheibe den vertrauten Figuren in einer Nachmittagsserie. Sie fand die Stummschaltung auf der Fernbedienung und setzte dem übertrieben rührseligen Dialog ein Ende.
    Sie
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