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Der Wolf

Der Wolf

Titel: Der Wolf
Autoren: John Katzenbach
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sorgfältig gewählte Worte weitaus gefährlicher sein konnten.
    Manchmal, musste er denken, sind die Witze, die außer einem selbst niemand hören kann, die besten. Die drei Briefe befanden sich nun in einem der größten – und zuverlässigsten – Postverarbeitungssysteme der Vereinigten Staaten. Aus lauter Vorfreude hätte er am liebsten einen Jubelschrei ausgestoßen oder einen fernen Mond angeheult, der sich irgendwo über dem hohen Gewölbe des Grand Central verbarg. Er merkte, wie ihm das Blut in den Adern pochte und das Getöse der Züge und der Menschenmenge in den Hintergrund trat, während ihn eine eigene, wohlige Stille einhüllte. Es war, als tauche er ein in die glasklare Karibische See und betrachte die Lichtstrahlen, die diese azurblaue Welt durchzogen.
    Wie der Taucher, als der er sich sah, atmete er langsam aus, während er unaufhaltsam wieder an die Oberfläche stieg.
    Es geht also los, dachte er.
    Dann ließ er sich von der anonymen Masse in einen vollbesetzten Pendelzug schieben. Es war ihm egal, wohin er fuhr, denn sein eigentliches Ziel lag ohnehin woanders.

[home]
    2
    Die drei Roten
    D er Tag, an dem sie zu Rote Eins wurde, war für Dr. Karen Jayson hart genug.
    Zunächst hatte sie an diesem Morgen einer Frau mittleren Alters sagen müssen, dass sie ihren Testergebnissen nach an Eierstockkrebs litt; mittags hatte sie durch einen Anruf der örtlichen Notaufnahme erfahren, dass einer ihrer langjährigen Patienten bei einem Autounfall schwer verletzt worden war; gleichzeitig hatte sie einen anderen Patienten mit einem Nierenstein ins Krankenhaus einweisen müssen, weil in diesem schweren Fall die übliche Schmerztherapie nicht griff. Anschließend hatte sie sich fast eine Stunde lang am Telefon mit einem Versicherungsangestellten herumgeschlagen, um diese ärztliche Entscheidung zu rechtfertigen. Unterdessen hatte sich ihr Wartezimmer mit Patienten gefüllt – von der Routineuntersuchung über die Mandelentzündung bis zur Grippe war alles dabei, und die Patienten, die mehr oder weniger frustriert und leidend ihre Zeit absaßen, steckten sich derweil munter gegenseitig an.
    Am späten Nachmittag eines in ihren Augen ohnehin mühseligen Tags war sie in den Hospiztrakt des Altenheims »Schattenhain« gerufen worden – einer Einrichtung unweit ihrer Praxis, die weder an einem Hain lag noch besonderen Schatten bot –, um einem Sterbenden, den sie kaum kannte, letzten Beistand zu leisten. Der über neunzig Jahre alte Mann, von dem außer der Trichterbrust, den eingesunkenen Augen und einem flackernden Rest von Bewusstsein kaum etwas übrig war, klammerte sich mit der Zähigkeit eines Pitbulls ans Leben. Im Lauf ihres Berufslebens hatte Karen viele Menschen sterben sehen; für eine Internistin mit einer Zusatzausbildung in Gerontologie war das unvermeidlich. Doch auch nach so vielen Jahren Erfahrung mit dieser Situation hatte sie sich nie ganz daran gewöhnt, und obwohl sie nur neben dem Bett des Mannes stand und gelegentlich seine Tropfinfusion anpasste, war sie aufgewühlt und von ihren Gefühlen hin und her geworfen wie ein Baum im eisigen Wind. Sie wünschte sich, die Hospizschwestern hätten sie nicht gerufen, sondern diesen Todesfall alleine bewältigt.
    Doch sie hatten es getan, und sie war gekommen.
    Das Zimmer wirkte abweisend und kalt, obwohl die altmodischen Heizkörper auf Hochtouren liefen. Es herrschte trübes Licht, als verschaffte ein abgedunkeltes Zimmer dem Tod leichteren Zugang. Ein paar Apparate, ein verriegeltes Fenster, eine alte Nachttischlampe, zerwühlte, weiße Laken und ein schwacher Abfallgeruch waren alles, was den alten Mann umgab. Nicht einmal ein billiges, aber farbenfrohes Gemälde hing an einer der Wände, um die Trostlosigkeit des Zimmers aufzulockern. Es war kein guter Ort zum Sterben.
    Zum Teufel mit den Dichtern, dachte sie, Sterben hat nicht den leisesten Hauch von Romantik, schon gar nicht in einem Altenpflegeheim, das bessere Tage gesehen hat.
    »Er ist tot«, sagte die diensthabende Schwester.
    Karen hatte in den letzten Sekunden dasselbe gehört: ein langsames Ausatmen, als entweiche das letzte bisschen Luft aus einem undichten Ballon, gefolgt von einem schrillen Signalton des Herzmonitors, wie man ihn aus den Ärzteserien im Fernsehen kannte. Sie beugte sich vor und schaltete nach einem prüfenden Blick auf die leuchtende grüne Linie den Apparat aus; auch die vermeintliche dramatische Spannung, konstatierte sie, ging dem routinemäßigen Sterben
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