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Der Wolf

Der Wolf

Titel: Der Wolf
Autoren: John Katzenbach
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ab. Es erinnerte sie eher daran, wie in einem großen Zuschauerraum, nachdem das Publikum gegangen war, die Lichterreihen ausgeschaltet wurden, bis alle verloschen waren und nur noch Dunkelheit herrschte. Sie seufzte bei der Erkenntnis, dass selbst dieses Bild zu poetisch war, und flüchtete sich in die eingespielten nächsten Schritte. Auf der Suche nach einem Puls in der Carotis legte sie dem alten Mann die Finger an den Hals. Seine Haut fühlte sich wie Seidenpapier an, und ihr kam der seltsame Gedanke, dass schon die zarteste Berührung verräterische Narben hinterlassen würde.
    »Todeseintritt 16  Uhr 44 «, sagte sie.
    Zahlen hatten mit ihrer mathematischen Verlässlichkeit etwas Befriedigendes, wie Puzzleteile, die man passgenau ineinanderfügt. Sie warf einen Blick auf die Patientenverfügung des Toten und spähte zur Schwester hinüber, die damit begonnen hatte, die Kabelanschlüsse von seiner Brust zu entfernen. »Wenn Sie mit Mister …«, sie wandte sich wieder dem Formular zu, »Wilsons Papieren fertig sind, bringen Sie mir sicher alles zur Unterschrift rüber?«
    Karen schämte sich ein wenig dafür, dass ihr der Name des alten Mannes entfallen war. Ganz so anonym sollte der Tod nicht sein. Wie nicht anders zu erwarten, sah das Gesicht des Verstorbenen friedlich aus. Tod und Klischees, dachte sie, gehören einfach zusammen. Einen Moment lang fragte sie sich, was für ein Mensch Mister Wilson wohl gewesen war – eine Menge Hoffnungen, Träume, Erinnerungen und Erfahrungen, die um 16  Uhr 44 erloschen waren. Was hatte er erlebt? Familie? Schule? Krieg? Liebe? Trauer? Freude? In seinen letzten Augenblicken verriet nichts in diesem Raum, wer er gewesen war. Karen fühlte Wut in sich aufsteigen darüber, dass der Tod eine solche Anonymität mit sich brachte. Die Hospizschwester musste etwas von ihren Gefühlen bemerkt haben, denn sie beeilte sich, dem drückenden Schweigen ein Ende zu setzen.
    »Schon traurig«, sagte die Schwester. »Mister Wilson war ein liebenswürdiger alter Herr. Wussten Sie, dass er nichts so sehr liebte wie Dudelsackmusik? Dabei war er kein Schotte. Ich glaube, er stammte irgendwo aus dem Mittleren Westen. Iowa oder Idaho. Schon seltsam.«
    Karen vermutete, dass es zu dieser Liebe eine Vorgeschichte gab, doch die war nun unwiederbringlich verloren. »Wissen Sie von Angehörigen, die ich benachrichtigen sollte?«, fragte sie.
    Die Schwester schüttelte den Kopf, sagte jedoch: »Ich muss noch mal in seinen Einweisungspapieren nachsehen. Ich weiß nur, dass wir niemanden angerufen haben, als er ins Hospiz kam.«
    Die Schwester war bereits von der einen Routine – der Betreuung eines über Neunzigjährigen an der Schwelle zum Jenseits – zur nächsten Pflicht übergegangen, der ordnungsgemäßen, bürokratischen Abwicklung des Todes.
    »Ich geh kurz raus, während Sie die Formulare zusammenstellen.«
    Die Schwester nickte kaum merklich. Sie war mit Dr. Jaysons Gewohnheiten nach einem Todesfall vertraut: Nach einer heimlichen Zigarettenpause in der hintersten Ecke des Parkplatzes, wo die Ärztin sich – irrtümlicherweise – unbeobachtet glaubte, würde sie wieder hereinkommen, um im Hauptbüro, in dem ihr ein eigener Schreibtisch zur Verfügung stand, Kranken- und Pflegeformulare auszufüllen und anschließend mit ihrer Unterschrift unter den staatlich vorgeschriebenen Totenschein das unvermeidliche Ende eines Aufenthalts im Heim zu besiegeln. Das Altenheim lag nur wenige Blocks von dem quadratischen roten Ziegelbau des Ärztehauses entfernt, in dem Karen neben einem Dutzend anderer Kollegen der unterschiedlichsten Fachrichtungen von Psychiatrie bis Kardiologie ihre kleine Internistenpraxis betrieb. Die Schwester wusste, dass die Ärztin genau eine halbe Zigarette rauchen würde, bevor sie wieder hereinkam, um Mister Wilsons Papiere auszufüllen. In der Packung Marlboros, die Karen, wie jeder, der im Hospiztrakt arbeitete, wusste, in ihrer obersten Schreibtischschublade versteckte, hatte sie jede Zigarette sorgfältig und präzise abgemessen und die Mitte mit rotem Kugelschreiber markiert. Außerdem wusste die Schwester, dass Karen sich keinen Mantel überziehen würde, selbst wenn es in West Massachusetts in Strömen goss oder klirrend kalt war. Die Schwester vermutete, dass es für sie eine Art Bußübung war, sich den Launen des Wetters auszusetzen, eine selbst auferlegte Strafe für ihre abstoßende Sucht, mit der sie sich sehenden Auges früher oder später ins Grab
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