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Der Wolf

Der Wolf

Titel: Der Wolf
Autoren: John Katzenbach
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den Ball so oft verfehlt, dass der Trainer dich anbrüllt und vor der nächsten Runde aus der Aufstellung nimmt; ein einsames Abendessen im Speisesaal, weil sich niemand zu dir setzen will. Wenn sie vor dem Schlafengehen keine Zahnpasta mehr hätte, würde ihr wahrscheinlich niemand auch nur einen Spritzer spendieren; und wenn es Zeit war zu schlafen, wälzte sie sich schlaflos im Bett hin und her, während sich ihr unter der Last all der Probleme die Brust zuschnürte wie bei einem Asthmaanfall. Am liebsten hätte sie sich irgendwo versteckt, aber nicht einmal das war möglich. Mit ihrem verdammten roten Haar – wie sie es hasste – stach sie aus jeder Menschentraube heraus, wo sie doch in der Anonymität untergehen wollte. Manchmal stopfte sie es sich sogar unter eine Skimütze, doch selbst das nützte nicht viel.
    Sie lief mit gesenktem Kopf, zerknautschtem Parka und einem Rucksack, der ihr vom Gewicht der Bücher an den Schultern zerrte, den Fußweg zwischen dem Werkraum und den Laborräumen entlang. Der Regen war kalt und tropfte vom Efeu, der an ihrer exklusiven Privatschule die Wohngebäude der Schüler bedeckte. Wenigstens, dachte sie, passt das Wetter zu meiner Stimmung. Normalerweise waren die Gehwege Treffpunkte – die Schüler grüßten sich, blieben stehen, um über Lehrer und andere Schüler zu tratschen oder über Sport zu diskutieren. Jordan stapfte voran und war froh, dass das Wetter auch alle anderen zügig über das Netz aus geteerten Pfaden trieb, das den Campus durchzog. Es war früher Nachmittag, auch wenn der graue Himmel den Eindruck erweckte, als stünde der Einbruch der Nacht unmittelbar bevor. Statt mit den anderen zu Mittag zu essen, war sie nur kurz in die Cafeteria gehuscht, um sich eine Orange, ein Stück Weißbrot und eine kleine Milchtüte zu holen, alles in die Parkataschen zu stopfen und später ungestört in ihrem Zimmer zu essen.
    Als Oberstufenschülerin hatte sie sich in einem der kleineren, umgebauten Häuser am Rande des Campus ein Einzelzimmer ohne Mitbewohner ergattert. Von außen war es mit seinem breiten Eingangsportal und der vornehmen Mahagonitreppe in der Mitte ein für Neuengland typisches, etwa hundert Jahre altes Schindelhaus. Früher einmal hatte hier der Kaplan der Lehranstalt gewohnt, und beim Betreten strömte einem ein süßlicher, sakraler Geruch entgegen. Heute hatten hier sechs Mädchen aus der Oberstufe ihre Zimmer, außerdem die Lacrosse-Trainerin der Schülerinnen und die Spanischlehrerin, eine gewisse Miss Gonzales, die auch als Heimmutter und Vertrauensperson fungieren sollte, jedoch den größten Teil ihrer Freizeit mit dem jungen Assistenten des Fußballtrainers zubrachte, einem verheirateten Mann und Vater zweier kleiner Kinder. Ihre ungezügelten – und in den Ohren der Mädchen sportlichen – Laute der Leidenschaft drangen durch die Wände sämtlicher Zimmer. Diese ekstatische Geräuschkulisse gab den Mädchen im Haus Anlass zum Lachen und zu heimlichem Neid.
    Jordan schmunzelte über das ehebrecherische Stöhnen und die spitzen Schreie, die aus Miss Gonzales’ Apartment drangen. Es musste toll sein, sich so zu vergessen, ein himmelweiter Unterschied zu ihren eigenen tastenden, verlegenen Experimenten mit Jungen.
    Sie schüttelte den Kopf, und langsam kehrten all die Sorgen und Probleme zurück, so dass es sich anfühlte, als hingen ihr nicht nur die Bücher im Rucksack an den Schultern. Zum ersten Mal, seit die Eltern ihr mit ihrer Nachricht einen solchen Schlag versetzt hatten, fragte sie sich ernsthaft, ob es überhaupt einen Sinn hatte weiterzumachen. Sie wusste, dass sie keine Schuld an der ganzen Misere hatte, und trotzdem kam es ihr so vor, als läge alles an ihr.
    Aufgewühlt vom Chaos in ihrem Leben, betrat Jordan die Eingangshalle. Sie schüttelte sich den Kopf ein wenig ab und strich sich über den nassen Parka. Dann zog sie die Skimütze aus und ließ, weil niemand in der Nähe war, ihre Haare herunterfallen. Alle waren beim Mittagessen, und es blieb noch etwas Zeit, bevor die Sportaktivitäten am Nachmittag sie in den Schulalltag zurückbeorderten. Die Ruhe tat ihr gut, und sie trat zu dem Tisch, auf dem die Post des Wohnheims in sechs verschiedenen Ablagekästen sortiert war. Sie stellte fest, dass sich in ihrem drei Briefe befanden.
    Die ersten beiden erkannte sie auf Anhieb an der Handschrift: das enge, kaum leserliche Gekritzel ihres Vaters und die schwungvollere, ausladendere Schrift ihrer Mutter. Es erschien Jordan
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