Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Wolf

Der Wolf

Titel: Der Wolf
Autoren: John Katzenbach
Vom Netzwerk:
seines Pyjamas sickerte. Sie beugte sich vor, senkte den Kopf und sprach ihm direkt ins Ohr. »Du hattest es dir andersherum vorgestellt, nicht wahr? Hast gedacht, du setzt mir das Messer an die Kehle, hey? Und wie sollte es dann weitergehen?«
    Er antwortete nicht. Sein Gesicht war wutverzerrt, und es kostete ihn die größte Beherrschung, sich im Zaum zu halten. Am liebsten hätte er ihr die Gurgel zugedrückt. Irgendeine Gurgel. Doch er konnte weder vor noch zurück.
    Sarah rappelte sich auf die Knie. Sie hielt die Waffe in beiden Händen und richtete sie geradeaus. Sie befand sich direkt vor dem Wolf, und die Mündung zielte ihm zwischen die Augen.
Wenn du jetzt abdrückst, ziehst du einen Schlussstrich unter alles, was dein Leben ausgemacht hat. Fang ein neues Leben an, und dein neues Ich ist für immer sicher.
Der Wolf saß in der Falle, eingezwängt zwischen den beiden Roten – wie in einer tödlichen Parenthese.
    »Ich dachte, du wärst tot«, sagte der Wolf bitter.
    »Ich war bei Ihrer Trauerfeier«, fügte Mrs. Böser Wolf kläglich hinzu. Dann sackte sie plötzlich aufs Bett, legte die Arme um die Knie und rollte sich wie ein unglückliches kleines Mädchen ein. Ihr weinerlicher Ton wirkte, als fühlte sie sich ausgetrickst und ungerecht behandelt.
    »Ich bin auch tot«, antwortete Sarah kaltblütig, ohne den Wolf aus den Augen zu lassen.
    Sie hob den Lauf an die Augen.
    »Jordan hat recht«, sagte sie nüchtern. »Bringen wir sie hier und jetzt um.«
    »Nein, bitte nicht«, stöhnte Mrs. Böser Wolf. Aus ihrem Mundwinkel tröpfelte dank eines Treffers von Sarah ein wenig Blut. Ihr Haar war kraus und verfilzt. Sie war bleich, und die Ärztin in Karen diagnostizierte, dass die Frau binnen Sekunden um Jahre gealtert war. Plötzlich dachte Karen an ihr Herz.
Es kann jederzeit versagen, dann haben wir einen Herzinfarkt verursacht. Ist das Mord? Oder höhere Gerechtigkeit?
    Mrs. Böser Wolf wandte sich an Karen. »Doktor Jayson, bitte …« Dann drehte sie sich zu Jordan um. »Jordan, Sie sind ein nettes Mädchen, Sie können doch nicht …«
    »Nein, bin ich nicht«, unterbrach Jordan sie wütend. »Vielleicht war ich das mal, aber jetzt nicht mehr. Und ich
kann.
« Die Frage,
was
sie konnte, überließ sie jedermanns Phantasie. Sie legte die Finger fester um den Messerschaft.
    »Wartet«, sagte Karen.
    Die anderen beiden Roten fuhren mit den Köpfen herum.
    »Wir wissen noch nicht genug.«
    Rote Zwei und Rote Drei blickten sie fragend an.
    »Bevor wir sie töten«, sagte sie, »will ich alles wissen.«
    Karen war eiskalt, als ob sie zum ersten Mal, seit sie den Brief des Bösen Wolfs erhalten hatte, wieder scharfe Konturen in ihrem Leben erkennen könne. Endlich schimmerte dicht unter der Oberfläche wieder eine gewisse Klarheit durch, die sie mit Händen greifen konnte. Sie beugte sich so dicht zu ihm hinunter, dass sie ihm den Atem ins Gesicht blies.
    »Ei, Großmutter, was hast du für große Augen.«
    Dabei grinste sie ihn mit einem Sarkasmus an, den sie an sich bisher nicht kannte.
    »Das ist eine Frage. Du erinnerst dich doch, nicht wahr? Und du weißt, woher sie stammt. Aus einem Märchen. Ist das zu fassen? Ein gottverdammtes Märchen, das wir seit unserer Kindheit nicht mehr gelesen haben. Jedenfalls lautet die richtige Antwort:
Dass ich dich besser sehen kann.
«
     
    Isolierband ist eine großartige Erfindung, dachte Karen, als sie es Mrs. Böser Wolf um Hände und Füße wickelte. Besser als Stricke und Knoten. Einfache Handhabung, hohe Klebkraft. Möchte wetten, dass echte Kriminelle es ständig benutzen.
    Die beiden Wölfe saßen, in graues Isolierband gewickelt, Seite an Seite auf der Wohnzimmercouch. Sie hatten etwas von einem Teenagerpaar beim ersten Date – dicht beisammen, aber ohne sich zu berühren. Mit Mrs. Böser Wolf gingen ein bisschen die Gefühle durch, und sie konnte nichts dagegen machen. Ihr Mann dagegen versteckte seine Wut unter einer verdrießlichen Miene. Er sagte nicht viel, doch er verfolgte jede der Roten mit Blicken, als überlege er, welche er zuerst töten sollte, sobald er sich auf wundersame Weise aus seiner misslichen Lage befreit, eine Waffe beschafft und, Simsalabim, den Spieß umgedreht hatte.
    »Das wär’s«, sagte Karen, während sie zurücktrat und ihr Werk begutachtete.
    Rote Zwei und Rote Drei standen dicht hinter ihr, nach wie vor mit gezückten Waffen.
    »Und nun?«, fragte Jordan.
    Keine der drei Roten hatte den Gezeitenwechsel bemerkt, der in
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher