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Die Geschichte der Deutschen

Die Geschichte der Deutschen

Titel: Die Geschichte der Deutschen
Autoren: Wilhelm von Sternburg
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    |5| Für Carla

|9| Warum über Geschichte nachdenken?
    Geschichte ist öde. Die Mehrheit der Schüler in aller Welt hat dieses Verdammungsurteil zweifellos schon vor Urzeiten gefällt. Zahlenfriedhöfe, pathetische Schlachtengemälde, nervige Statistiken, in unverständlicher Sprache abgefasste Dokumente, staubige Grabfunde, Tonscherben und abgegriffene Münzen oder die endlosen Beschreibungen von Domschätzen und Herrschaftsinsignien – wer soll da nicht einschlafen?
    Geschichte ist faszinierend. Sie erzählt von unserem Herkommen und dem Werden unserer Umwelt. Sie erklärt uns unendlich vieles: warum unsere Vorfahren immer wieder Krieg führten, warum Elend und Hunger die Völker heimsuchten, warum die Eisenbahn, der Telegraf oder der Computer die Welt veränderten, warum die Frauen in Europa um ihre Gleichberechtigung so lange kämpfen mussten, warum Deutschland erst so spät eine Demokratie wurde, warum es wichtig war, die Europäische Union zu gründen. Geschichte löst längst nicht alle, aber doch manche Rätsel unseres gesellschaftlichen Alltags.
    Mein Interesse an der Vergangenheit begann im Religionsunterricht. Ich war in der siebten Klasse und wir lasen den Roman Quo vadis?, in dem der polnische Autor Henryk Sienkiewicz aus der Zeit der Christenverfolgungen im Römischen Reich erzählt. Mich fesselte weniger der religiöse Hintergrund dieses Romans als vielmehr die Schilderung des Lebens im alten Rom. Mein Vater wies mich wenig später auf die Jugendbuchausgabe von Felix Dahns Ostgoten-Saga Ein Kampf um Rom und Gustav Freytags Epos Die Ahnen hin, in dem die Geschichte der Deutschen seit den Tagen der Germanen romanhaft dargestellt wird. Zugegeben: Heute, gut 50 Jahre später liest kaum noch einer diese beiden Wälzer. Nicht nur die Jugendlichen greifen lieber zu den Asterix-Comics, in denen die Kelten und Germanen als rauf- und saufwütige Gesellen durch die Lande ziehen. Oder sie kaufen eine Kinokarte, um die Abenteuer von König Artus, seiner schönen Frau Guinevere und den Rittern der Tafelrunde auf der Leinwand zu verfolgen. Mir aber eröffnete sich damals Buchseite |10| um Buchseite eine neue Welt. Ich begann, über mein eigenes kleines Leben hinauszublicken.
    Bald entdeckte ich auch, wie widersprüchlich Eltern und Lehrer, Mitschüler und Freunde über die Berichte in den Zeitungen oder im Radio (Fernsehen gab es damals noch nicht) die Welt deuteten, wie sie über das Heute sprachen und sich dabei häufig überaus einseitig auf das Gestern beriefen. Ihre Urteile über die Vergangenheit und damit auch die Gegenwart basierten in der Regel weniger auf Fakten als auf ideologischen Vorurteilen, denen sie durch den Einfluss ihrer Umgebung erlegen waren. Für meine Eltern und ihre Bekannten beispielsweise war der Erste Weltkrieg aus deutscher Sicht ein Verteidigungskrieg, zu dem die neidischen Nachbarn uns im August 1914 angeblich gezwungen hätten. Über Hitler und den Nationalsozialismus sprachen die Erwachsenen in meiner Jugend kaum. Wenn diese Zeit überhaupt thematisiert wurde, dann wiesen sie entschuldigend auf die soziale Not und die hohe Arbeitslosigkeit in den Jahren vor der Errichtung der Diktatur hin. Und natürlich hatten sie fast alle nichts von den Untaten der Nazis gewusst.
    Als ich dann in den nächsten Jahren die Arbeiten der Historiker las, wurde ich immer misstrauischer. Die häufig aggressive und sehr einäugige Betrachtung der Ereignisse und der Menschen, die sie bewirkt hatten, ließ mich ahnen, dass die Wirklichkeit komplizierter ist, als es uns die Schlagzeilen der Medien oder die Wahlkämpfer der Parteien zu suggerieren versuchen. Historische Schuld und Unschuld, die Opfer und die Täter der Geschichte – das war und ist offensichtlich nicht so einfach, wie es die nationalen Propagandisten des Ruhmes der Deutschen (oder Engländer, Franzosen, Italiener, Russen, Amerikaner ...) immer wieder verkünden.
    Es wurde mir immer klarer, dass das Denken und Handeln der Völker im Alltag des Heute tief geprägt ist von ihrer Vergangenheit. Sitten- und Moralansprüche, wirtschaftliche und technologische Entwicklungen, Arbeitsethos und Religion, Gesetze und gesellschaftliche Tabus, Sprache und kulturelle Eigenarten – vieles davon beruht auf jahrhundertealten Traditionen. Die Vergangenheit ist vielfach höchst lebendige Gegenwart.
    Allmählich wurde mir auch bewusst, dass die Helden meiner Jugend – Cäsar, Karl der Große, Napoleon, Bismarck – für Krieg, Mord und
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