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Der Wolf

Der Wolf

Titel: Der Wolf
Autoren: John Katzenbach
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dass ihr hier heute Nacht nicht rauskommt. Ihr hättet besser einen großen Bogen um mich und dieses Haus gemacht. Ihr hättet akzeptieren sollen, was ich mit euch vorhatte. Oder ihr hättet uns beide noch oben umbringen müssen. Das hättet ihr vielleicht geschafft. Vielleicht stimmt es sogar, wenn Rote Zwei sagt, ihr könntet es auch jetzt noch. Nehmen wir einmal an, ihr habt genug Angst und Wut in euch, um es zu tun. Aber bringt ihr es fertig, auch sie zu ermorden?« Er deutete mit dem Kopf auf seine Frau. »Sie ist nämlich unschuldig. Sie hat nichts getan.«
    Der Böse Wolf zuckte die Achseln.
    »Da muss man schon um einiges abgebrühter sein, wenn man jemanden töten will, nur weil er zur falschen Zeit am falschen Ort ist. Traut ihr euch das zu? Seid ihr so abgebrüht?«
    Karen schwirrte der Kopf. Es war, als hätte jemand im Raum einen Duftstoff verbreitet, der ihr das Denken vernebelte. Sie ahnte, dass alles, was der Wolf sagte, seine Richtigkeit hatte. Sie wären niemals frei.
Töten wir den Mann, laufen wir für den Rest unseres Lebens mit Schuldgefühlen herum. Lassen wir ihn ungeschoren, fragen wir uns für den Rest unseres Lebens, ob er gerade irgendwo auf uns lauert. Töten wir die Frau, sind wir nicht besser als er.
Bei dem Gedanken drehte sich ihr fast der Magen um. Sarahs Hand neben ihr zuckte. Die Waffe war plötzlich unendlich schwer, und Sarah wusste nicht, wie lange sie noch die Kraft aufbringen würde, sie zu halten. Sie war sich nicht einmal sicher, ob sie die physische Kraft besäße, abzudrücken. Mit einem Schlag hatte sie alle Energie verlassen. Jordan sackte mit dem Rücken an die Wand. Sie stellte sich Fragen, auf die es keine Antworten gab.
    Und genau in diesen Moment der allgemeinen Ratlosigkeit platzte Mrs. Böser Wolf.
    »Es ist doch nichts weiter als ein Buch. Es geht nur um das Buch, das er schreibt. Niemand muss heute Nacht sterben.«
     
    Alle Schriftsteller brauchen Geschichten, dachte Karen. Sie klauen sie aus ihrem eigenen Leben und dem der Menschen in ihrer Umgebung. Sie klauen von ihrer Familie und von Freunden. Sie entlehnen ihren Stoff der Geschichte und dem aktuellen Weltgeschehen. Sie schlachten Zeitungsartikel aus oder Gespräche, und manchmal kupfern sie auch voneinander ab.
    In diesem Moment hörte sie Jordan aufschreien.
    Es war halb Schrei, halb Weinen, eine Mischung aus Schreck und Schmerz. Karens Blick richtete sich sofort auf den Bösen Wolf, der wütend knurrte und einen guten Teil seiner aufgesetzten, unerschrockenen Fassade eingebüßt hatte. Sie erkannte:
Er weiß, was sie hat.
    »Geh du«, sagte Sarah. Sie fuchtelte mit dem Revolverlauf in die Richtung, aus der Jordans Ausbruch kam. Sarah saß, den Rücken an die Wand gelehnt, den beiden Wölfen gegenüber auf dem Boden.
    Karen hörte Jordan rufen: »Hier drinnen!« Sie folgte der Stimme, die von einer neuen Anspannung zu beben schien. Als sie den Raum betrat, hörte sie Jordan schluchzen.
    Da stimmt was nicht, dachte sie. Rote Drei ist stark. Sie war von Anfang an hart im Nehmen.
    Tränen liefen Jordan die Wangen herunter. Das Mädchen brachte kein Wort heraus. Sie zeigte nur auf die Wand.
    Sie hatte nicht lange gebraucht, um die verschlossene Bürotür zu finden und den Schlüssel dazu; er war am Bund des Bösen Wolfs, und das hing neben der Haustür.
    Erst als Karen sah, was er dort angesammelt hatte, verlor sie die Beherrschung.
    Bilder. Zeitpläne. Skizzen. Ein Jagdmesser.
    Zum Leben einer jeden von ihnen eine detaillierte Studie.
    Und die Mittel, ihm ein Ende zu bereiten.
    Karen sah sich mit der heimlichen Zigarette. Jordan auf dem Basketballplatz. Sarah vor dem Spirituosenladen. Ein Bild neben dem anderen, die Montage einer todbringenden Obsession. Doch über den Schock hinaus, ihre persönliche Geschichte ausgebreitet zu sehen, ging die Erkenntnis, welche Energie in diesen perversen Schrein geflossen war. Es war, als stünden alle drei Roten nackt im Arbeitszimmer des Bösen Wolfs. Die Verletzung ihrer Privatsphäre war kaum zu überbieten. Als hätten sie nie einen ungestörten Moment gehabt, als wäre er ihnen nicht einen Augenblick von der Seite gewichen – sie hatten es nur nicht gewusst.
    Die Hingabe, mit der er sich dem Tod gewidmet, die schiere Zeit, die er darauf verwendet hatte, erschütterte sie bis ins Mark. Karen merkte, dass ihre Beine nachgaben, und wie zum Gebet in der Kirche sackte sie auf die Knie.
    Von nebenan rief Sarah: »Was gibt’s denn?«
    Karens Antwort war nur ein
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