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Der Wolf

Der Wolf

Titel: Der Wolf
Autoren: John Katzenbach
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lässt?«
    Es herrschte Schweigen im Raum. Der Böse Wolf kannte die Antwort auf diese Frage und wusste, dass er sie nicht auszusprechen brauchte.
    Karen wandte sich an die anderen Roten. »Meine Damen«, sagte sie, »wir müssen los.«
    Sie nahm das Brotmesser mit der gezackten Schneide, das sie aus der Küche entwendet hatte, und legte es auf den Fernsehapparat. »Hier«, sagte sie. »Ihr werdet eine Weile brauchen, bis ihr drankommt, um euch loszuschneiden.«
    Sie konnte sich einen sarkastischen Witz nicht verkneifen. »Es ist schon fast Morgen. Hey, kommt nicht zu spät zur Arbeit.«
    Sie nahmen alles mit. Als sie kurz vor dem Aufbruch waren, konnte sich auch Jordan nicht mehr zurückhalten und flüsterte den anderen Roten zu: »Wisst ihr was? Mir ist klargeworden, dass ich Märchen verdammt noch mal nicht leiden kann.« Sie kicherte unbeherrscht. An der Türschwelle drehte sie sich noch einmal zum Bösen Wolf um und sagte: »Schätze, das letzte Kapitel muss ein bisschen umgeschrieben werden?«
    8  Uhr
    Rote Drei packte sich zur Feier des Tages ihr Frühstückstablett mit Müslischalen, einem Teller mit Toast und Rührei, mit Obst, Kaffee und Orangensaft voll. Sie wartete am Ende der Schlange, bis ein Muskelprotz, der an ihrer Schule in der Football-Mannschaft spielte, vor ihr an die Theke trat, und kam ihm mit ihrem Tablett gezielt in die Quere. Es fiel scheppernd zu Boden, Geschirr ging zu Bruch, das Ganze war eine Schweinerei.
    Es befanden sich an diesem Morgen fast fünfundsiebzig Schüler und Lehrer im Speisesaal. Die Schüler spendeten – wie immer, wenn ein Tablett zu Boden ging – Applaus, und die Lehrer traten, ebenso reflexhaft, augenblicklich in Aktion, um einen Hausmeister zu holen, der sauber machte, und die feixenden Schüler zur Ruhe zu bringen. Jordan wusste nur, dass sich an diesem Morgen jeder an sie erinnern würde. Die Vorstellung, dass sie sich fast die ganze letzte Nacht einem Mörder entgegengestellt hatte, wäre so absurd, dass jeder, der einigermaßen bei Verstand war, sie für das Hirngespinst eines überspannten Teenagers halten musste.
     
    Rote Zwei mischte sich unter eine Gruppe Frauen, die eine Kinderschar für den Schulbus fertig machten.
    Trotz aller Belastung und der Bedrohung, die von den Ex-Männern oder -Freunden ausging, mussten die Kinder zur Schule gehen. Es war immer eine Zeit, der die Frauen mit gemischten Gefühlen entgegensahen: Einerseits konnte einer dieser Männer auf der Bildfläche erscheinen, andererseits bedeutete der Aufbruch mit den üblichen Ermahnungen, nicht zu spät zu kommen, ein Stück Normalität. Es herrschte Gedränge, und die anderen Frauen wussten ein Paar zusätzliche Augen und Hände, um in einem von häuslicher Gewalt zerrütteten Leben ein gewisses Maß an Ordnung aufrechtzuerhalten, zu schätzen.
    Niemandem war aufgefallen, dass sich Sarah nicht von drinnen zu der Gruppe gesellte, sondern von draußen. Sie wussten nur, dass die alleinstehende Frau namens Cynthia an diesem Tag ausgesprochen hilfsbereit war, mit ihnen darauf achtete, dass die Kinder ihre Lunchpakete und ihre Hausaufgaben nicht vergaßen. Sie lachte mit den Kindern und behielt gleichzeitig die Umgebung im Blick, weil man nie wissen konnte, woher die nächste Gefahr drohte. Niemand bemerkte, dass Cynthia an diesem Morgen zum ersten Mal seit Tagen das Gefühl hatte, endlich und wahrhaftig frei zu sein.
     
    Rote Eins begrüßte ihre erste Patientin an diesem Morgen mit einem Überschwang, der angesichts der schmerzhaften Gürtelrose, an der sie litt, vielleicht ein wenig unangemessen war.
    Während der Untersuchung plauderte sie mit der Frau und stellte ihr zum Schluss ein Rezept aus. Sie vergewisserte sich, dass alle ihre Bemerkungen zu dem Fall in der elektronischen Patientendatei mit Datum und Uhrzeit versehen wurden.
    Als sie die Konsultation beendet hatte, begleitete sie die Patientin ins Wartezimmer, damit alle anderen Patienten, die für diesen Morgen Termine hatten, sehen konnten, dass dies ein durch und durch normaler Tag mit der üblichen Praxisroutine war. Bevor sie sich ihrem zweiten Patienten widmete, wandte sie sich an ihre Sprechstundenhilfe.
    »Ach, eh ich’s vergesse«, sagte sie zu der Frau hinter der kleinen Theke, als ginge es um die natürlichste Sache der Welt. Sie reichte ihr die Patientenakte von Mrs. Böser Wolf. »Ich würde Sie bitten, diese Patientin heute Nachmittag anzurufen und mit ihr einen Termin in ein paar Wochen abzusprechen. Ich mache mir
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