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Der Wanderer

Der Wanderer

Titel: Der Wanderer
Autoren: Khalil Gibran
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einst sei ein gewaltiger Meteor in dieses Feld eingeschlagen.«
    Da ging der Reisende weiter und wunderte sich in seinem Herzen. Und er begegnete einem sehr alten Mann, und er begrüßte ihn und sagte: »Herr, ich bin auf dieser Straße drei Männern begegnet, die alle hier in der Nähe wohnen, und ich habe jeden von ihnen nach diesem Feld gefragt. Und jeder von ihnen bestritt, was der andre zuvor gesagt hatte, und jeder von ihnen erzählte mir eine neue Geschichte, die der andere nicht erzählt hatte.«
    Der Alte hob den Kopf und antwortete: »Mein Freund, jeder Einzelne von ihnen hat dir erzählt, was tatsächlich der Fall war; doch nur wenige von uns sind imstande, verschiedene Tatsachen zusammenzufügen und daraus eine Wahrheit zu bilden.«

Der Goldgürtel
    Einst wanderten zwei Männer, die sich auf der Landstraße kennengelernt hatten, gen Salamis, die Stadt der Säulen. Am Nachmittag gelangten sie an einen breiten Fluss, doch es gab keine Brücke. Sie mussten entweder schwimmen oder eine andere Straße suchen in unbekanntem Gelände.
    Und sie sagten zueinander: »Lass uns schwimmen. So breit ist der Fluss schließlich nicht.« Und sie sprangen ins Wasser und schwammen.
    Und einer der Männer, der seit seiner frühesten Kindheit Flüsse kannte und mit ihnen vertraut war, verlor auf halber Strecke die Kraft und begann, mit der Strömung abzutreiben; während der andere, der noch nie in seinem Leben geschwommen war, den Fluss in einem Zug durchquerte und ans jenseitige Ufer stieg. Als er dann sah, dass sein Weggefährte noch immer mit der Strömung kämpfte, stürzte er sich wieder in die Fluten und brachte ihn ebenfalls sicher an Land.
    Und der Mann, der von der Strömung fortgerissen worden war, sagte: »Aber du hattest doch gesagt, du könntest gar nicht schwimmen! Wie konntest du den Fluss mit solcher Sicherheit durchqueren?«
    Und der zweite Mann antwortete: »Mein Freund, siehst du meinen Gürtel? Er ist voll von Goldmünzen, die ich fürmeine Frau und meine Kinder verdient habe: der Lohn eines ganzen Jahres Arbeit. Es war das Gewicht dieses Goldgürtels, was mich durch den Fluss getragen hat, zu meiner Frau und meinen Kindern. Und während ich schwamm, saßen meine Frau und meine Kinder auf meinen Schultern.«
    Und die zwei Männer setzten ihre Wanderung nach Salamis fort.

Die rote Erde
    Sprach ein Baum zu einem Mann: »Meine Wurzeln reichen bis tief in die rote Erde, und ich werde dir von meinen Früchten geben.«
    Und der Mann sprach zu dem Baum: »Wie sehr wir uns doch ähneln! Auch meine Wurzeln reichen bis tief in die rote Erde. Und die rote Erde gewährt dir die Macht, mir von deinen Früchten zu geben, und lehrt mich, dankbar von dir zu empfangen.«

Der Vollmond
    Der Vollmond stieg in Herrlichkeit über der Stadt auf, und alle Hunde der Stadt begannen, den Mond anzubellen.
    Einzig ein Hund bellte nicht, und er sprach zu den anderen mit tief ernster Stimme: »Weckt nicht die Stille aus ihrem Schlafe, noch bringet den Mond auf die Erde mit eurem Gebell!«
    Da hielten alle Hunde in ihrem Bellen inne und verharrten in ehrfürchtiger Stille. Doch der Hund, der zu ihnen gesprochen hatte, hörte den ganzen Rest der Nacht nicht auf, um Stille zu bellen.

Der Einsiedler-Prophet
    Es war einmal ein Einsiedler-Prophet, und drei Mal jeden Mond ging er hinab in die große Stadt und predigte den Menschen auf den Marktplätzen vom Geben und Teilen. Er war beredt und im ganzen Land berühmt.
    Eines Abends kamen drei Männer zu seiner Einsiedelei,und er begrüßte sie. Und sie sagten: »Du predigst seit Langem vom Geben und Teilen, und du hast versucht, jene, die viel haben, dazu zu bewegen, denen, die wenig haben, zu geben. Wir zweifeln nicht daran, dass dein Ruhm dir Reichtümer eingebracht hat. Gib uns jetzt also von deinen Reichtümern, denn wir leiden Not.«
    Und der Einsiedler antwortete und sagte: »Meine Freunde, ich habe nichts als dieses Bett und diese Matte und diesen Krug Wasser. Nehmt das alles, wenn ihr es wünscht. Ich besitze weder Gold noch Silber.«
    Und sie sahen verächtlich auf ihn herab und wandten sich ab von ihm; und der letzte Mann blieb einen Augenblick lang in der Tür stehen und sagte: »Ach, du Schwindler! Du Betrüger! Du lehrst und predigst das, was du selbst nicht lebst.«

Der alte, alte Wein
    Es lebte einmal ein reicher Mann, der zu Recht stolz auf seinen Keller und den Wein darin war. Es gab auch einen Krug mit einem uralten Jahrgang, den er für einen besonderen Anlass
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