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Der Wanderer

Der Wanderer

Titel: Der Wanderer
Autoren: Khalil Gibran
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am liebsten in mir wiedererkannt wie in einem Spiegel.
    Deswegen kam ich hierher. Ich halte diese Umgebung für gesünder. Zumindest kann ich hier ich selbst sein.«
    Dann wandte er sich plötzlich zu mir, und er fragte: »Aber du – haben auch dich Erziehung und weise Ratschläge an diesen Ort getrieben?«
    Und ich erwiderte: »Nein, ich bin nur ein Besucher.«
    Und er sagte: »Ach so – du bist einer von denen, die im Tollhaus jenseits der Mauer leben.«

Die Frösche
    Eines Sommertags sagte ein Frosch zu seinem Gefährten: »Ich fürchte, unsere Nachtgesänge belästigen die Menschen, die in dem Haus drüben am Ufer wohnen.«
    Und sein Gefährte antwortete und sagte: »Nun, stören sie nicht mit ihrem Gerede tagsüber unsere Stille?«
    Der Frosch sagte: »Vergessen wir nicht, dass wir des Nachts vielleicht ein wenig zu viel singen.«
    Und sein Gefährte antwortete: »Vergessen wir nicht, dass sie während des Tages viel zu viel schwatzen und schreien.«
    Sagte der Frosch: »Was ist mit dem Ochsenfrosch, der mit seinem unseligen Gedröhn die ganze Nachbarschaft belästigt?«
    Und sein Gefährte erwiderte: »Ja, und was sagst du zu dem Politiker und dem Priester und dem Wissenschaftler, die an diese Ufer kommen und die Luft mit lärmendem und reimlosem Schall erfüllen?«
    Da sagte der Frosch: »Nun, so lass uns besser sein als diese Menschen. Lass uns des Nachts schweigen und unsere Lieder in unseren Herzen bewahren, obwohl der Mond nach unserem Takt ruft und die Sterne nach unseren Reimen. Lass uns zumindest ein, zwei Nächte schweigen oder vielleicht sogar drei Nächte lang.«
    Und sein Gefährte sagte: »Schön, ich bin einverstanden.Wir werden sehen, was dein mitfühlendes Herz bewirken wird.«
    In jener Nacht schwiegen die Frösche; und sie schwiegen auch in der folgenden Nacht und in der dritten Nacht ebenso.
    Und so seltsam es auch klingen mag: An diesem dritten Tag kam die geschwätzige Frau, die im Haus am See wohnte, zum Frühmahl herunter und schrie ihrem Mann zu: »Ich habe seit drei Nächten kein Auge zugetan. Solange ich den Lärm der Frösche im Ohr hatte, war mir der Schlaf gewiss. Aber es muss etwas geschehen sein. Sie haben die letzten drei Nächte nicht gesungen, und die Schlaflosigkeit macht mich fast verrückt.«
    Als der zweite Frosch dies hörte, wandte er sich zu seinem Gefährten und sagte mit einem Augenzwinkern: »Und uns hat unser Schweigen fast verrückt gemacht, nicht wahr?«
    Und der erste Frosch erwiderte: »Ja, die Stille der Nacht hat schwer auf uns gelastet. Ich sehe jetzt ein, dass keine Notwendigkeit für uns besteht, mit unserem Gesang aufzuhören denen zuliebe, die es drängt, ihre Leere mit Lärm aufzufüllen.«
    Und in der folgenden Nacht rief der Mond nicht vergebens nach ihrem Takt und die Sterne nicht nach ihren Reimen.

Gesetze und Gesetzgebung
    Vor langer Zeit herrschte ein großer König, und er war weise. Und es verlangte ihn, seinen Untertanen Gesetze zu geben.
    Er berief eintausend weise Männer aus eintausend verschiedenen Stämmen in seine Hauptstadt, auf dass sie die Gesetze festlegten.
    Und all dies geschah wie befohlen.
    Doch als die tausend Gesetze, auf Pergament geschrieben, dem König vorgelegt wurden und er sie las, da weinte er bitterlich in seiner Seele, denn er hatte nicht gewusst, dass es in seinem Königreich eintausend verschiedene Formen von Verbrechen gab.
    Dann rief er seinen Schreiber zu sich, und mit einem Lächeln auf den Lippen diktierte er selbst Gesetze. Und es waren lediglich sieben.
    Da verließen ihn die eintausend weisen Männer im Zorn und kehrten mit den Gesetzen, die sie aufgeschrieben hatten, heim zu ihren Stämmen. Und jeder Stamm befolgte die Gesetze seines weisen Mannes.
    Und daher haben sie noch heute eintausend verschiedene Gesetze.
    Es ist ein herrliches Land, aber es hat eintausend Gefängnisse, und die Gefängnisse sind voll von Frauen und Männern, die gegen eintausend Gesetze verstießen.
    Es ist wirklich ein herrliches Land, aber seine Menschen sind die Nachfahren von eintausend Gesetzgebern und lediglich einem einzigen weisen König.

Gestern, heute und morgen
    Ich sprach zu meinem Freund: »Du siehst, wie sie sich an den Arm jenes Mannes hängt. Erst gestern hing sie so an meinem Arm.«
    Und mein Freund sagte: »Und morgen wird sie so an meinem hängen.«
    Ich sagte: »Sieh nur, wie dicht sie bei ihm sitzt. Erst gestern saß sie so dicht neben mir.«
    Und er entgegnete: »Morgen wird sie neben mir so sitzen.«
    Ich
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