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Der Wanderer

Der Wanderer

Titel: Der Wanderer
Autoren: Khalil Gibran
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sagte: »Schau, sie trinkt aus seinem Becher Wein, und gestern trank sie noch aus meinem.«
    Und er: »Morgen aus meinem Becher.«
    Dann sagte ich: »Schau, wie sie ihn voller Liebe und schmachtend anblickt. Gestern blickte sie noch mich so an.«
    Und mein Freund sagte: »Morgen werde ich es sein, den sie so anblickt.«
    Ich sagte: »Hörst du sie jetzt Liebeslieder ihm ins Ohr flüstern? Dieselben Liebeslieder flüsterte sie erst gestern mir ins Ohr.«
    Und mein Freund sagte: »Und morgen flüstert sie dieselben mir zu.«
    Ich sagte: »Nun sieh doch, sie umarmt ihn. Erst gestern noch, da hat sie mich umarmt.«
    Und mein Freund sagte: »Morgen, da wird sie mich umarmen.«
    Da sagte ich: »Welch eine wunderliche Frau!«
    Doch er erwiderte: »Sie gleicht dem Leben, das jeder Mensch besitzt; und wie dem Tod fällt jedermann ihr zu; und wie die Ewigkeit hält jeden sie umfangen.«

Der Philosoph und der Schuster
    Einst kam ein Philosoph mit abgelaufenen Schuhen zu einer Schusterwerkstatt. Und der Philosoph sagte zu dem Schuster: »Bitte besohle meine Schuhe.«
    Und der Schuster sagte: »Ich besohle gerade die Schuhe eines andren Mannes, und dann habe ich noch weitere Schuhe zu flicken, bevor ich mich an deine machen kann. Aber lass deine Schuhe nur hier und trag heute dieses andre Paar, und morgen kannst du deine Schuhe wieder abholen.«
    Da empörte sich der Philosoph und sagte: »Ich trage keine andern Schuhe als die meinen!«
    Und der Schuster sagte: »Was denn, du bist ein Philosoph und kannst dir nicht vorstellen, in eines andren Mannes Schuhen zu stecken? Ein Stück weiter die Straße entlang gibt es einen anderen Schuster, der sich auf Philosophen besser versteht als ich. Geh du, lass dich von ihm bedienen.«

Brückenbauer
    In Antiochia wurde dort, wo der Fluss Orontes in das Meer fließt, eine Brücke erbaut, auf dass der eine Teil der Stadt enger mit dem andern verbunden wäre. Sie wurde aus großen Steinen erbaut, die die Maultiere von Antiochia auf ihrem Rücken aus den Bergen heruntertrugen.
    Als die Brücke vollendet war, wurde in einen ihrer Pfeiler auf Griechisch und auf Aramäisch die Inschrift eingekerbt: »Diese Brücke wurde von König Antiochos II. erbaut.«
    Und alle Menschen gingen über die prächtige Brücke und überquerten den mächtigen Orontes.
    Und eines Abends stieg ein Jüngling, den manche für ein wenig verrückt hielten, hinunter zu dem Pfeiler, in den die Worte eingekerbt waren, und er schwärzte die Inschrift mit Holzkohle, und darüber schrieb er: »Die Steine dieser Brücke wurden von den Maultieren aus den Bergen heruntergeschafft. Wenn du sie in der einen und der anderen Richtung überquerst, reitest du auf den Rücken der Maultiere von Antiochia, den Erbauern dieser Brücke.«
    Und als die Leute lasen, was der Jüngling geschrieben hatte, lachten manche von ihnen, und manche wurden nachdenklich. Und manche sagten: »Ach ja, wir wissen, wer das getan hat. Ist er nicht ein wenig verrückt?«
    Doch ein Maultier sagte lachend zu einem anderen Maultier:»Erinnerst du dich nicht, dass wir diese Steine tatsächlich getragen haben? Und dennoch heißt es bis zum heutigen Tag, dass die Brücke von König Antiochos erbaut wurde.«

Das Feld von Zaad
    Auf der Straße von Zaad begegnete ein Reisender einem Mann, der in einem nahe gelegenen Dorf wohnte, und der Reisende deutete mit der Hand auf ein ausgedehntes Feld und fragte den Mann: »War dies nicht das Schlachtfeld, auf dem König Ahlam seine Feinde überwand?«
    Und der Mann antwortete und sagte: »Das ist niemals ein Schlachtfeld gewesen. Auf diesem Feld stand einst die große Stadt Zaad, und sie wurde in Schutt und Asche gelegt. Aber jetzt ist es ein gutes Feld, nicht wahr?«
    Und der Reisende und der Mann schieden voneinander.
    Keine halbe Meile weiter begegnete der Reisende einem anderen Mann, und wieder auf das Feld deutend, fragte er: »Das also ist der Ort, an dem einst die große Stadt Zaad stand?«
    Und der Mann sagte: »Hier hat es noch nie eine Stadt gegeben. Aber früher einmal stand hier ein Kloster, und es wurde von den Leuten des Südlands zerstört.«
    Kurz darauf begegnete der Reisende auf derselben Straße von Zaad einem dritten Mann, und er deutete noch einmal auf das ausgedehnte Feld und sagte: »Ist es wahr, dass dies der Ort ist, an dem einst ein bedeutendes Kloster stand?«
    Doch der Mann antwortete: »In dieser Gegend hat es noch niemals ein Kloster gegeben, aber unsere Väter undunsere Vorväter erzählten uns,
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