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Der Wanderer

Der Wanderer

Titel: Der Wanderer
Autoren: Khalil Gibran
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Geschichte?«
    Der Dichter gab ihm keine Antwort, sondern ging weiter und sagte in seiner Seele: »Tatsächlich, sieben Leben haben wir, sieben Leben in der Tat. Und sterben werden wir sieben Mal, sieben Mal werden wir sterben. Vielleicht wäre es besser, nur ein einziges Leben zu haben, gefangen in einer Falle – das Leben eines Bauern mit einem StückchenKäse als seine letzte Mahlzeit. Und doch, sind wir nicht verwandt den Löwen der Wüste und des Waldes?«

Der Fluch
    Ein alter Mann vom Meer sagte einst zu mir: »Dreißig Jahre ist es her, dass ein Matrose mit meiner Tochter durchging. Und ich verfluchte sie beide in meinem Herzen, denn nichts liebte ich auf der Welt so wie meine Tochter.
    Nicht lang danach ging der Matrosenjunge mit seinem Schiff unter, und mit ihm ging mir meine liebliche Tochter verloren.
    Seht in mir also den Mörder eines Jünglings und einer Jungfrau. Es war mein Fluch, der sie vernichtete. Und jetzt, da ich dem Grab entgegengehe, erflehe ich Gottes Vergebung.«
    Dies sagte der alte Mann. Doch in seinen Worten schwang etwas wie Prahlen mit, und er scheint noch immer stolz zu sein auf seines Fluches Macht.

Die Granatäpfel
    Es war einmal ein Mann, der viele Granatapfelbäume in seinem Garten hatte. Und manch einen Herbst legte er seine Granatäpfel auf silberglänzenden Platten vor seinem Haus aus, und über den Platten hängte er Schilder auf, auf die er mit eigener Hand geschrieben hatte: »Nehmt einen als Geschenk. Ich gebe sie euch gerne.«
    Doch die Leute gingen achtlos vorbei, und niemand nahm sich von den Früchten.
    Da ging der Mann mit sich zu Rate, und im nächsten Herbst legte er keine Granatäpfel auf silberglänzenden Platten vor seinem Haus aus, sondern er brachte ein Schild an, auf dem in großen Lettern geschrieben stand: »Wir haben die besten Granatäpfel im ganzen Land, aber wir verkaufen sie für mehr Silber, als jeder andere Granatapfel kostet.«
    Und siehe, jetzt eilten alle Männer und Frauen der Umgegend herbei, um sich welche zu kaufen.

Gott und viele Götter
    In der Stadt Kilafis stellte sich ein Sophist auf die Stufen des Tempels und predigte von vielen Göttern. Und die Menschen sagten in ihrem Herzen: »Das wissen wir alles schon. Teilen sie nicht unser Leben und folgen uns, wohin wir auch gehen?«
    Nicht lange danach stellte sich ein anderer Mann auf dem Marktplatz hin und sprach zu den Menschen und sagte: »Es gibt keinen Gott.« Und viele, die ihn hörten, freuten sich über seine Botschaft, denn sie fürchteten sich vor Göttern.
    Und an einem anderen Tag kam ein Mann von großer Beredsamkeit, und er sagte: »Es gibt nur einen Gott.« Und jetzt waren die Menschen bestürzt, denn in ihrem Herzen fürchteten sie das Gericht eines einzigen Gottes mehr als das vieler Götter.
    Noch in derselben Jahreszeit kam wieder ein anderer Mann, und er sagte zu den Menschen: »Es gibt drei Götter, und sie wohnen als ein Einziger im Wind, und sie haben eine allumfassende und gnadenreiche Mutter, die zugleich ihre Gattin und ihre Schwester ist.«
    Da waren alle beruhigt, denn sie sagten sich insgeheim: »Drei Götter in einem können sich unmöglich über unsere Verfehlungen einig werden, und außerdem wird sich ihregnadenreiche Mutter mit Sicherheit für uns arme Schwächlinge verwenden.«
    Dennoch gibt es in der Stadt Kilafis bis zum heutigen Tage Leute, die miteinander streiten und hadern, ob es denn viele Götter oder keinen Gott oder einen Gott oder drei Götter in einem und eine gnadenreiche Göttermutter gebe.

Die taube Frau
    Es war einmal ein reicher Mann, der eine junge Frau hatte, und sie war stocktaub.
    Eines Morgens, als sie sich zum Frühmahl setzten, sprach sie zu ihm und sagte: »Gestern war ich auf dem Markt, und da wurden seidene Gewänder aus Damaskus feilgeboten und Kopftücher aus Indien, Halsketten aus Persien und Armreifen aus dem Jemen. Offenbar waren die Karawanen gerade erst in unserer Stadt eingetroffen. Und jetzt sieh mich an, eines reichen Mannes Frau und doch zerlumpt. Ich hätte gern einige von diesen schönen Dingen.«
    Noch immer mit seinem Morgenkaffee beschäftigt, sagte der Mann: »Meine Liebe, es besteht kein Grund, warum du nicht zur Marktstraße gehen und dir alles kaufen solltest, was dein Herz begehrt.«
    Und die taube Frau sagte: »›
Nein! ‹
Immer sagst du: ›Nein, nein.‹ Muss ich wirklich vor unseren Freunden in Lumpen erscheinen und deinen Reichtum und meine Familie beschämen?«
    Und der Ehemann sagte: »Ich habe nicht
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