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Der Wanderer

Der Wanderer

Titel: Der Wanderer
Autoren: Khalil Gibran
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Nein gesagt! Du kannst ganz nach Belieben zum Markt gehen und dir die schönsten Kleider und Schmuckstücke kaufen, die in unsere Stadt gekommen sind.«
    Aber wieder missverstand die Frau seine Worte, und sie erwiderte: »Von allen reichen Männern bist du der geizigste. Du gönnst mir nichts Schönes und Reizvolles, während andere Frauen meines Alters in kostbaren Gewändern durch die Gärten der Stadt wandeln.«
    Und sie fing an zu weinen. Und während die Tränen auf ihre Brust fielen, rief sie wieder aus: »Immer sagst du ›Nein, nein‹ zu mir, wenn ich mir ein Kleid oder ein Schmuckstück wünsche.«
    Dies rührte den Ehemann, und er stand auf und holte aus seinem Geldbeutel eine Hand voll Gold hervor und legte sie vor sie hin und sagte mit freundlicher Stimme: »Gehe hinunter zum Markt, meine Liebe, und kaufe dir alles, was du willst.«
    Von dem Tag an erschien die taube junge Ehefrau, wann immer sie sich etwas wünschte, mit einer Tränenperle im Auge vor ihrem Gemahl, und er holte schweigend eine Hand voll Gold hervor und legte sie ihr in den Schoß.
    Nun begab es sich, dass sich die junge Frau in einen Jüngling verliebte, dessen Angewohnheit es war, lange Reisen zuunternehmen. Und wann immer er fort war, setzte sie sich auf ihre Erkerbank und weinte.
    Wenn ihr Mann sie so weinend vorfand, sagte er sich in seinem Herzen: »Offenbar ist eine neue Karawane eingetroffen, und es gibt seidene Gewänder und seltene Juwelen in der Marktstraße.«
    Und dann holte er immer eine Hand voll Gold hervor und legte sie vor sie hin.

Die Suche
    Vor tausend Jahren begegneten sich zwei Philosophen auf einem Hang des Libanon, und einer sagte zum anderen: »Wohin gehest du?«
    Und der andere antwortete: »Ich bin auf der Suche nach dem Quell der ewigen Jugend, von dem ich weiß, dass er in diesen Bergen entspringt. Ich habe Schriften gefunden, in denen es heißt, dass diese Quelle der Sonne entgegensprudelt. Und du, wonach suchst du?«
    Der erste Mann sagte: »Ich suche nach dem Geheimnis des Todes.«
    Da gelangte jeder der zwei Philosophen zu dem Schluss, dass es dem anderen an tiefer Einsicht ermangele, und siebegannen zu streiten und einander geistiger Blindheit zu bezichtigen.
    Während nun die zwei Philosophen die Luft mit Lärm erschütterten, kam ein Fremder – ein Mann, der in seinem Dorf als Einfaltspinsel galt – des Weges, und als er den hitzigen Disput der beiden hörte, blieb er stehen und lauschte eine Weile ihrem Wortgefecht.
    Dann trat er näher und sagte: »Liebe Leute, mir scheint, dass ihr beide derselben Philosophenschule angehört und dass ihr von derselben Sache sprecht, nur verwendet ihr dabei unterschiedliche Wörter. Der eine von euch sucht nach der Quelle der Jugend, und der andere sucht nach dem Geheimnis des Todes. Doch in Wahrheit sind die beiden eins, und als eines wohnen sie in euch beiden.« Und als er aufbrach, lachte er nachsichtig in sich hinein.
    Die zwei Philosophen sahen einander einen Moment lang schweigend an, und dann lachten auch sie. Und einer von ihnen sagte: »Nun denn, wollen wir nicht zusammen gehen und gemeinsam suchen?«

Das Zepter
    Sprach ein König zu seiner Gemahlin: »Frau, Ihr seid keine wirkliche Königin. Ihr seid zu gewöhnlich und zu unhöflich, um meine Gemahlin zu sein.«
    Sprach seine Frau: »Herr, Ihr haltet Euch für einen König, doch Ihr seid nur ein jämmerlicher Wicht!«
    Diese Worte erzürnten den König, und er ergriff sein goldenes Zepter und schlug die Königin damit auf die Stirn.
    In diesem Augenblick trat der Großkämmerer ein, und er sagte: »Eure Majestät! Dieses Zepter wurde vom größten Künstler des Landes geschaffen. Ach! Eines Tages werdet Ihr und die Königin vergessen sein, aber dieses Zepter wird um seiner Schönheit willen von Geschlecht zu Geschlecht weitergereicht werden. Und jetzt, da Ihr damit den Kopf Ihrer Majestät blutig geschlagen habt, Sire, wird das Zepter umso höher geachtet und umso länger erinnert werden.«

Der Weg
    In den Bergen lebte eine Frau mit ihrem Sohn, und er war ihr einziges Kind.
    Doch der Junge starb an einem Fieber, während der Arzt hilflos dabeistand.
    Die Mutter war außer sich vor Schmerz, und sie schrie und flehte den Arzt an und sagte: »Sagt mir, sagt mir bitte, was es war, das sein Streben stillte und seinen Gesang verstummen ließ!«
    Und der Arzt sagte: »Es war das Fieber.«
    Und die Mutter sagte: »Was ist das Fieber?«
    Und der Arzt antwortete: »Ich kann es nicht erklären. Es ist etwas
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