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Der Wanderer

Der Wanderer

Titel: Der Wanderer
Autoren: Khalil Gibran
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unendlich Kleines, das den Körper heimsucht, wir können es mit unserem Menschenauge nicht erkennen.«
    Dann verließ sie der Arzt. Und sie wiederholte ständig vor sich hin: »Etwas unendlich Kleines. Wir können es mit unserem Menschenauge nicht erkennen.«
    Am Abend kam der Priester, um ihr Trost zu spenden. Und sie weinte, und sie schrie und sagte: »Oh, warum habe ich nur meinen Sohn verloren, meinen einzigen Sohn, meinen Erstgebornen?«
    Und der Priester antwortete: »Mein Kind, es ist der Wille Gottes.«
    Und die Frau sagte: »Was ist Gott, und wo ist Gott? Ichwill Ihn sehen, auf dass ich meinen Busen vor Ihm aufreißen kann und mein Herzblut zu Seinen Füßen vergießen. Sagt mir, wo ich Ihn finden kann!«
    Und der Priester sagte: »Gott ist unendlich groß. Er ist für unser Menschenauge nicht erkennbar.«
    Da schrie die Frau auf: »Das unendlich Kleine hat meinen Sohn getötet durch den Willen des unendlich Großen! Was sind dann wir? Was sind wir?«
    In diesem Moment kam die Mutter der Frau mit dem Leichentuch für den toten Jungen ins Zimmer, und sie hörte des Priesters Worte und auch den Aufschrei ihrer Tochter. Und sie legte das Leichentuch nieder und nahm die Hand ihrer Tochter in die ihre, und sie sagte: »Meine Tochter, wir selbst sind das unendlich Kleine und das unendlich Große; und wir sind auch der Weg zwischen den beiden.«

Der Wal und der Schmetterling
    Eines Abends befanden sich ein Mann und eine Frau zusammen in einer Postkutsche. Sie waren sich schon früher einmal begegnet.
    Der Mann war ein Dichter, und wie er neben der Frau saß, bemühte er sich, sie mit Geschichten zu unterhalten – zum Teil selbstersonnenen, zum Teil anderen, die nicht sein Werk waren.
    Doch noch während er sprach, schlief die Dame ein. Dann machte der Wagen plötzlich einen Satz, und sie wachte auf, und sie sagte: »Ich bewundere Eure Interpretation der Geschichte von Jona und dem Wal.«
    Und der Dichter sagte: »Aber meine Dame, ich habe Euch doch eine eigene Geschichte erzählt, über einen Schmetterling und eine weiße Rose und darüber, wie sie sich gegeneinander verhielten!«

Der ansteckende Frieden
    Ein blühender Zweig sagte zu seinem Nachbarzweig: »Das ist ein öder und leerer Tag.« Und der andere Zweig erwiderte: »Er ist in der Tat leer und öde.«
    In diesem Moment ließ sich ein Spatz auf einem der Zweige nieder und dann, nicht weit von ihm, ein zweiter.
    Und der eine Spatz tschilpte und sagte: »Mein Liebchen hat mich verlassen.«
    Und der andere Spatz schrie: »Mein Liebchen ist ebenfalls weg, und sie kommt nie mehr wieder. Und was kümmert’s mich?«
    Dann fingen die beiden an zu zetern und zu schimpfen, und bald entbrannte ein Streit, und ihre spitzen Schreie zerrissen die Luft.
    Plötzlich kamen zwei weitere Spatzen vom Himmel geflogen und setzten sich stumm neben die zwei aufgeregten. Und es trat Stille ein, und es war Frieden.
    Dann flogen die vier paarweise davon.
    Und der erste Zweig sagte zu seinem Nachbarzweig: »Das war ja ein mächtiges Getöse!« Und der andere Zweig erwiderte: »Nenn’s, wie du willst, aber jetzt ist es friedlich, und wir haben wieder Platz, uns zu bewegen. Und wenn die höheren Luftsphären Frieden schließen, könnten diejenigen, die in den unteren leben, es ihnen doch wohl nachtun.Möchtest du dich nicht vom Wind ein bisschen näher heranwehen lassen?«
    Und der erste Zweig sagte: »Ach, warum nicht, um des lieben Friedens willen – ehe der Frühling vorbei ist.«
    Und dann schwang er sich im starken Wind zu ihr hinüber und umarmte sie.

Der Schatten
    An einem Tag im Juni sagte das Gras zum Schatten einer Ulme: »Du bewegst dich viel zu oft von rechts nach links, immer hin und her, und störst meinen Frieden!«
    Und der Schatten antwortete und sagte: »Nein, nicht ich. Sieh hinauf zum Himmel. Da ist ein Baum, der sich im Wind bewegt, von Ost nach West, immer hin und her, zwischen der Sonne und der Erde.«
    Und das Gras sah empor und erblickte zum ersten Mal den Baum. Und es sagte in seinem Herzen: »Schau einer an, es gibt ein Gras, das größer ist als ich.«
    Und das Gras schwieg.

Siebzig
    Der Dichterjüngling sagte zur Prinzessin: »Ich liebe Euch.« Und die Prinzessin antwortete: »Ich liebe dich ebenfalls, mein Kind.«
    »Aber ich bin nicht Euer Kind. Ich bin ein Mann, und ich liebe Euch.«
    Und sie sagte: »Ich bin die Mutter von Söhnen und Töchtern, und sie sind die Väter und Mütter von Söhnen und Töchtern; und einer der Söhne meiner Söhne ist
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