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Der Wanderer

Der Wanderer

Titel: Der Wanderer
Autoren: Khalil Gibran
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Der Adler und die Lerche
    Eine Feldlerche und ein Adler begegneten einander auf dem Felsengipfel eines hohen Berges. Die Lerche sagte: »Einen guten Morgen Euch, mein Herr.« Und der Adler blickte auf sie herab und sagte matt: »Guten Morgen.«
    Und die Feldlerche sagte: »Ich hoffe, es geht Euch gut, mein Herr.«
    »Ja«, sagte der Adler, »es geht Uns gut. Aber weißt du nicht, dass Wir der König der Vögel sind und dass du Uns nicht ansprechen darfst, ehe Wir nicht selbst gesprochen haben?«
    Sprach die Feldlerche: »Ich dächte, wir seien Blutsverwandte.«
    Der Adler sah verächtlich auf sie herab und sagte: »Wer hat je behauptet, du und ich seien Blutsverwandte?«
    Darauf sagte die Lerche: »Gestattet mir indes, Euch daran zu erinnern: Ich kann ebenso hoch fliegen wir Ihr, noch dazu kann ich singen und den anderen Geschöpfen dieser Erde Freude bereiten. Während Ihr weder Freude noch Vergnügen bereitet.«
    Da geriet der Adler in Zorn, und er sagte: »Freude und Vergnügen! Du kleine, anmaßende Kreatur! Mit einem einzigen Schnabelhieb könnte ich dich vernichten! Du bist nicht größer als mein Fuß!«
    Da flog die Lerche auf und ließ sich auf des Adlers Rücken nieder und fing an, seine Federn zu zausen. Der Adler war verärgert, und er flog schnell und hoch hinauf, um sich von dem kleinen Vogel zu befreien. Doch es gelang ihm nicht. Schließlich landete er, ärgerlicher denn je, wieder auf demselben Felsengipfel des hohen Berges, die kleine Kreatur noch immer auf dem Rücken, und verfluchte die Ungunst der Stunde.
    Gerade in diesem Moment kam eine kleine Schildkröte des Weges und lachte über das Bild, das sich ihr bot, und sie lachte so sehr, dass sie fast auf den Rücken gefallen wäre.
    Und der Adler sah auf die Schildkröte herab, und er sagte: »Du langsames, kriechendes Geschöpf, allzeit erdgebunden, was gibt es da zu lachen?«
    Und die Schildkröte sagte: »Nun, ich sehe, du bist zum Pferd geworden und trägst einen kleinen Vogel auf dem Rücken – aber der kleine Vogel ist der bessere Vogel.«
    Und der Adler sagte zu ihr: »Kümmer dich um deine eigenen Geschäfte! Das ist eine Familienangelegenheit und geht nur meine Schwester, die Lerche, und mich etwas an!«

Das Liebeslied
    Ein Dichter schrieb einmal ein Liebeslied, und es war wunderschön. Er fertigte davon viele Abschriften an und sandte sie seinen Freunden und Bekannten, männlich wie weiblich, und sogar einer jungen Frau, der er nur ein einziges Mal begegnet war und die jenseits der Berge lebte.
    Und ein, zwei Tage darauf kam ein Bote von der jungen Frau und überbrachte ihm einen Brief. Darin schrieb sie: »Seid versichert, das Liebeslied, das Ihr für mich geschrieben, hat mich tief berührt. Kommt sofort und sprecht mit meinen Eltern, und wir wollen unsere Verlobung ausrichten.«
    Der Dichter beantwortete den Brief und schrieb der Frau: »Meine Freundin, das war nur ein Liebeslied aus einem Dichterherzen, von jedem Mann für jede Frau gesungen.«
    Und sie schrieb ihm abermals und sagte: »Heuchlerischer Lügner! Von diesem Tag an, bis ich zur Grube fahre, werde ich um Euretwillen alle Dichter hassen!«

Tränen und Lachen
    Einmal, zur Abendzeit, begegnete am Ufer des Nils eine Hyäne einem Krokodil, und sie blieben stehen und grüßten einander.
    Die Hyäne sprach und sagte: »Wie geht es Euch, mein Herr?«
    Und das Krokodil antwortete: »Schlecht geht es mir. Manchmal weine ich in meinem Schmerz und Kummer, und dann sagen die Lebewesen stets: ›Das sind nur Krokodilstränen.‹ Und das verletzt mich unbeschreiblich.«
    Darauf sagte die Hyäne: »Ihr sprecht von Eurem Schmerz und Kummer, aber denkt doch auch einmal, nur einen Augenblick, an mich. Ich gewahre die Schönheit der Welt, ihre Zauber und Wunder, und aus schierer Freude lache ich, so wie die Sonne lacht. Und dann sagen die Bewohner der Savanne: ›Es ist bloß das Lachen einer Hyäne.‹«

Auf dem Jahrmarkt
    Es kam zum Jahrmarkt ein Mädchen vom Lande, ein überaus reizendes. In seinem Angesicht blühten eine Lilie und eine Rose, Sonnenuntergang lag in seinem Haar, und Morgenrot lächelte auf seinen Lippen.
    Kaum hatten sie die liebliche Unbekannte erblickt, begehrten sie die jungen Männer und scharten sich um sie. Der eine wollte mit ihr tanzen, und ein anderer wollte ihr zu Ehren einen Kuchen anschneiden. Und sie alle wünschten sich, ihre Wange zu küssen. Denn war nicht schließlich Jahrmarkt?
    Doch das Mädchen war empört und erschrocken, und es dachte schlecht von
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