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Der Wald - ein Nachruf

Der Wald - ein Nachruf

Titel: Der Wald - ein Nachruf
Autoren: Peter Wohlleben
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Therapien herum und war dann schließlich im Januar so weit, dass ich keine zwei Minuten mehr sitzen konnte. Da erbarmte sich der Chefarzt der Uniklinik in Bonn und griff zum Skalpell. Der Faserring der Bandscheibe, der die Gallert masse an Ort und Stelle hält, war gerissen, die weiche Masse in den Nervenkanal gedrückt worden. Hier halfen keine sanften Methoden mehr, das Zeug musste entfernt werden. Endlich schmerzfrei! Dafür meldete sich jetzt das schlechte Gewissen. Kaum bei der Gemeinde eingestellt, fiel ich schon für Wochen aus.
    Das war kein guter Start, und mir war das Ganze sehr pein lich. Um die Misere komplett zu machen, braute sich in der Natur Unheil zusammen. Vom Klinikbett aus konnte ich den Wipfel einer Eiche sehen. Ihre Äste waren winterkahl, trotzdem wirkte der Baum nicht trostlos, erinnerte er mich doch an meinen Wald. Die Zweige schwankten im Wind und diese Bewegungen wurden immer heftiger. Für mich sah das bedrohlich aus, denn ich wusste, was sich anbahnte. Ich hatte viel Zeit und sah mir mehrmals täglich die Nachrichten auf dem kleinen Fernseher meines Zimmers an. Der Wetterbericht wurde zunehmend spannend, denn die Meteorologen kündigten ein starkes Tiefdruckgebiet an. Und das bedeutet im Winter immer Sturm. Am 18. Januar 2007 war es dann so weit: Der Orkan Kyrill zog über weite Teile Europas und Deutschland. Die Böen heulten ums Krankenhaus, schüttelten die alte Eiche und ich bangte in meinem Bett um meine Familie und den Wald.
    Am nächsten Morgen telefonierte ich mit meiner Frau. Sie berichtete von der schlimmen Nacht: von umgestürzten Bäumen, die links und rechts von unserem Grundstück die Straße versperrten, von ausgefallenem Strom und Kerzenscheinromantik im Forsthaus. Rings um das Haus hatte es zum Glück keine Schäden gegeben, alle, die Familie und unsere Tiere, waren wohlauf. Zwei Tage lang gab es keine Elektrizität. Bei ihrem nächsten Besuch im Krankenhaus brachte meine Frau ihre Kamera mit und zeigte mir die Bilder der Zerstörung. Etliche Waldgebiete waren komplett umgefallen und da tröstete es mich wenig, dass es ausschließlich Nadelbäume erwischt hatte. Noch vom Krankenhaus aus organisierte ich telefonisch die Aufarbeitung und den Verkauf von 10 000 umgestürzten Bäumen. Unterstützung gab ein Kollege, der damals als freier Unternehmer meine Vertretung übernahm. Und dennoch hatte ich keine Ruhe bis zu dem Tag, als ich selber wieder durch den Wald stapfen konnte, der durch kreuz und quer liegende Stämme kaum noch passierbar war. Gegen ärztlichen Rat war dies bereits fünf Tage nach der Opera tion der Fall, ich musste einfach sehen, was draußen in meinem Revier passiert war.
    Mit dieser Einstellung arbeitete ich noch zwei Jahre unter Volldampf weiter. Ich hatte den Bandscheibenvorfall nicht als das erkannt, was er wohl war – ein Warnsignal meines Körpers, endlich ein wenig kürzerzutreten. Urlaub? Ließ ich bis auf zwei Wochen regelmäßig verfallen. Wochenende? Das sind doch zwei Tage, an denen man noch im Wald arbeiten kann! Feierabend? Warum nicht auch noch abends um 20:00 Uhr Termine annehmen! Doch eines Tages ist auch der stärkste Akku leer.
    Im Juni 2009 hatte ich ein Hörfunkinterview beim Saarländischen Rundfunk. Thema war eines meiner Bücher, die Livesendung dauerte eine Stunde. Schon in den Wochen vorher befiel mich immer wieder eine innere Unruhe, die nun in der Sendung in eine regelrechte Panikattacke ausartete. Nur mühsam absol vierte ich das Programm, stand die Fragen des Reporters irgendwie durch und brachte wenigstens äußerlich noch einen ganz passablen Auftritt zustande. Innerlich tobte dagegen der Aufruhr und ich fühlte mich weder auf der Rückfahrt mit dem Zug noch zu Hause besser. Meine Hoffnung war der bevorstehende Urlaub, sodass ich die Zähne zusammenbiss – es waren ja nur noch drei Wochen. So ließ ich mir nichts anmerken und hoffte auf die Zukunft. 20 Tage fern der Heimat und ohne den Alltagsstress des Berufslebens, da sollte wieder alles ins Lot kommen. Die Voraussetzungen waren bestens. Ich reiste mit der ganzen Familie nach Südschweden, wo wir ein einsames Häuschen in tiefen Wäldern gemietet hatten. Ein eigener See mit Ruderboot und Sauna, das verhieß Entspannung pur. Doch statt mich zu erholen, wälzte ich mich jede Nacht bis 4:00 Uhr morgens im Bett herum, fand keinen Schlaf und war tagsüber wie gerädert. Das machte mir Sorgen, denn so kannte ich mich gar nicht.
    Wieder zu Hause angekommen, suchte ich gleich
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