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Der Verrat

Der Verrat

Titel: Der Verrat
Autoren: Barry Eisler
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wieder aufgetaucht war, würde er mich kommen sehen.
    Bloß noch eine Sekunde, noch eine Sekunde, komm schon, du Arschloch, wo steckst du …
    Zack, da war er wieder, kam, noch immer auf meiner Straßenseite, die Treppen der Unterführung wieder hoch. Ich atmete tief und lautlos aus.
    Er schlenderte weitere hundert Meter an der Avenida de Amizade entlang, dann bog er nach rechts. Ich tat es ihm nach und sah gerade noch, wie er links in eine kleine Gasse abbog, in der es von Motorrollern wimmelte und die auf beiden Seiten von hohen Bürogebäuden gesäumt wurde. Ich folgte ihm, und um uns herum surrten außen an den Fenstern angebrachte Klimaanlagen wie Insekten in der Dunkelheit.
    Drei Minuten später erreichten wir das Lisboa. Ich folgte ihm hinein und fragte mich, ob er vorhatte, die vielen Ein- und Ausgänge des Hotels für einen geplanten Überwachungskontrolldurchgang zu nutzen. Falls dem so war, hatte er einen Fehler gemacht. Das Lisboa war nachts einfach zu überfüllt. Ein Verfolger konnte einem hier unbemerkt dicht auf den Fersen bleiben. Selbst wenn er hier ein Gegenaufklärungsteam in Stellung hatte, würde das Gewimmel von Nachtschwärmern für hervorragende Deckung sorgen. Vielleicht hatte er sich diese Route tagsüber ausgedacht, denn da war das Hotel nicht so überlaufen. Falls ja, dann hatte er einen stümperhaften Fehler gemacht. Tageszeiten, Wochentage, Jahreszeiten, Temperaturschwankungen – das alles kann zu dramatischen Veränderungen des Umfeldes führen, das man anfänglich vorgefunden hat.
    Ich schloss dichter auf und blieb nah an ihm dran, weil ich wusste, dass ich ihn schnell verlieren konnte, wenn er sich in den überfüllten, unübersichtlichen Bienenkorb des Kasinos davonmachte. Er ließ den Glücksspielbereich jedoch links liegen und ging stattdessen gemächlich im Uhrzeigersinn einmal um die Einkaufspassage im Erdgeschoss herum, wo ganze Rudel von Prostituierten aus der nahen Provinz Guangdong wie hungrige Fische in einem runden Aquarium kreisten. Wir bewegten uns mit ihnen, vorbei an Spielern, denen das frisch gewonnene Geld locker in der Tasche saß und die von den Mädchen mit deutlich aufreizenden Blicken bedacht wurden, weil sie hofften, von der fetten Beute des Kasinos ein paar Brocken abzubekommen; vorbei an Männern mittleren Alters aus Hongkong und Taiwan mit erschlaffenden Körpern, fiebrigen Augen und steifer Haltung, gefangen in einer finsteren Vorhölle zwischen sexueller Gier und kommerzieller Berechnung; vorbei an Security-Männern, die gegen den Zauber der nackten Frauenbeine und üppigen Dekolletés abgestumpft waren und nur darauf achteten, dass die Frauen in Bewegung blieben, weiter kreisten, unablässig durch das Dämmerlicht der endlosen Nacht im Lisboa trieben.
    Karate verließ das Gebäude durch einen Nebenausgang. Ich verstand noch immer nicht ganz, warum er überhaupt hineingegangen war. Die Einkaufspassage war genau wie das Hotel selbst viel zu überlaufen, um dort ernsthaft versuchen zu wollen, einen möglichen Verfolger zu entdecken. Vielleicht hatte er ja, so meine erste Spekulation, diesen Teil seiner Route schlecht geplant. Oder vielleicht hatte er sich einfach schon mal den Appetit geholt, den er dann später am Abend sättigen wollte. Ausgeschlossen war das nicht: Selbst Profis leisten sich hin und wieder mal eine Schwäche oder legen eine Pause ein, um ein menschliches Bedürfnis zu befriedigen.
    Nach dem Lisboa ertappte ich ihn nicht mehr dabei, dass er sich irgendwie nach hinten absicherte. Sein Trick mit dem Tunnel hatte ihn anscheinend hinlänglich beruhigt. Und er hätte mich ja auch auffliegen lassen, wenn meine Instinkte ein bisschen weniger scharf gewesen wären oder wenn ich nicht drei Wochen lang meine Hausaufgaben gemacht hätte.
    Er ging auf der Avenida Henrique in nordwestlicher Richtung weiter. Die Straße war gerade, dunkel und stark befahren, und ich konnte ihm in großem Abstand folgen. Meine Augen wanderten ständig hin und her, suchten die Gefahrenpunkte, die Stellen, an denen ich einen Hinterhalt versucht hätte. Mein innerer Radar peilte nichts an.
    Am Largo do Senado, dem wichtigsten Platz von Macau, hielt er sich rechts. Selbst um diese späte Uhrzeit wimmelte es hier von Menschen, und ich beschleunigte meine Schritte, um sicherzugehen, dass ich ihn nicht verlor. Da war er, bewegte sich über die Wellenlinien aus schwarzen und weißen Fliesen, an den angestrahlten, senkrechten Wasserstrahlen des Brunnens vorbei, passierte die
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