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Der Verrat

Der Verrat

Titel: Der Verrat
Autoren: Barry Eisler
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hinunter ins Erdgeschoss. Bei einem Profi war davon auszugehen, dass er den Hinterausgang nahm – die weniger frequentierte, weniger vorhersehbare Alternative –, und ich lief geduckt durch die Hintertür nach draußen, weil ich vermutete, dass Karate diesen Weg wählen würde. Es gab hier hinten drei Ausgänge – einer aus dem Hotel, einer aus dem Schönheitssalon, einer aus dem Restaurant –, doch alle führten auf denselben Hof, der wiederum auf einen einzigen Gehweg führte.
    Neben dem Hotel war ein offenes Parkhaus. Ich ging hinein und drückte mich gegen die Wand, die außen von Büschen verdeckt wurde.
    Eine Minute nachdem ich in Position gegangen war, kam er heraus. Die Straßenlampen beleuchteten ihn und warfen Schatten in das Parkhaus, in dem ich reglos stand. Ich sah ihn an mir vorbei den von Bäumen gesäumten Weg hinunterschlendern, in Richtung Avenida da Amizade, die wie die meisten großen Straßen Macaus ihren Namen vor Jahrhunderten von den Portugiesen erhalten hatte. Sein weich fallendes, dunkelblaues Sportsakko war zu elegant für diese Umgebung – in Macau, so hatte ich gelernt, kleidete man sich fast schon gammelig lässig –, aber als weiße Insel in einem asiatischen Meer würde er sich wohl ohnehin abheben.
    Hinter dem Parkhaus bog er links in eine schmale Gasse. Ich, warf einen Blick zurück zum Hotelausgang – alles ruhig. Bislang schien er allein zu sein, ohne einen zweiten Mann im Rücken. Ich folgte ihm. Er erreichte die Avenida da Amizade und wartete auf eine Lücke im Verkehr, um die Straße zu überqueren. Ich hielt mich ein Stück weiter hinten im Schatten und wartete.
    Er wandte sich nach links und warf einen kurzen Blick über die Schulter, wie das jeder Fußgänger tun würde, um sich zu vergewissern, dass kein Auto kommt, ehe er auf die Straße tritt. Ich erlaubte mir ein leises Lächeln. Der Schulterblick galt nicht dem Verkehr, sondern war eine unauffällige Kontrolle, ob ihm jemand folgte. Er machte das gut, und seine routinierten Bewegungen verrieten mir, dass es nicht leicht werden würde, ihm allein auf den Fersen zu bleiben.
    Er ging den breiten Boulevard entlang in Richtung Hotel Lisboa, nicht nur Macaus größtes Kasino, sondern auch der bekannteste Abschleppschuppen für Prostituierte, und nach einem Moment überquerte ich die Straße und folgte ihm. Die Straßenlampen standen weit auseinander mit größeren dunklen Abschnitten dazwischen, die gute Deckung boten, so dass Karate mich auch dann nicht hätte entdecken können, wenn er sich umgedreht hätte.
    Nach wenigen hundert Metern stieg er eine Treppe hinunter in eine Unterführung. Ich bewegte mich ein kleines bisschen schneller, um zu ihm aufzuschließen, und als ich den Eingang erreichte, sah ich gerade noch, wie er im Mittelgang des Tunnels unter der Straße verschwand.
    Jetzt stand ich vor einem Dilemma. Wenn ich ihm folgte und er sich umschaute, würde er mich sehen. Wenn ich blieb, wo ich war, und er auf der gegenüberliegenden Seite auftauchte und dann seine Schritte beschleunigte, um Vorsprung zu gewinnen, könnte ich ihn leicht verlieren.
    Ich überlegte einen Moment. Bis jetzt war seine Gegenaufklärung zurückhaltend gewesen, getarnt als das Verhalten eines ganz normalen Fußgängers. Aber jetzt gab er diese Zurückhaltung auf: Ein Fußgänger, der einen kleinen Spaziergang macht, überquert schließlich nicht eine Straße, um sie ein kurzes Stück weiter gleich wieder zu überqueren. Er wusste genau, was er wollte. Die Frage war, was hatte er vor? Umkehren, um einen möglichen Verfolger zu ertappen? Oder auf der anderen Seite hinaushasten, um ihn abzuschütteln?
    Wenn ich mit einem Team zusammengearbeitet hätte oder auch nur mit einem Partner, wäre das kein Problem gewesen. Wir hätten ihn einfach abwechselnd beschattet, denn wenn einer von uns entdeckt worden wäre, hätte der andere übernommen. Aber diesmal verfugte ich nicht über diesen Luxus. Ich hatte Instinkt und Erfahrung, und beides sagte mir, dass sein Gang in die Unterführung eine Finte war, der Versuch, einen Verfolger in den Tunnel zu locken, ihn aus der Menschenmenge herauszulösen, um dann umzukehren und ihn zu stellen. Also ging ich rechts an der Unterführung vorbei, hielt mich im Schatten einer der verkrüppelten Palmen der Avenida und hoffte, dass ich Recht hatte.
    Fünfzehn Sekunden verstrichen. Dreißig.
    Falls ich mich geirrt hatte, war das meine letzte Chance, die Straße doch noch zu überqueren. Wenn ich wartete, bis er
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