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Der Verrat

Der Verrat

Titel: Der Verrat
Autoren: Barry Eisler
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ständig im Hotel aufhielt: Fitnessraum, Café, Terrasse, Lobby. Wo auch immer der Bursche herkam, seine Reise nach Macau war eine lange gewesen. Insofern war es nicht gerade einleuchtend, dass er niemals loszog, um sich die Sehenswürdigkeiten anzuschauen – es sei denn, er wartete auf jemanden.
    Was das betraf, verhielt ich mich natürlich auch nicht gerade wie ein typischer Tourist. Doch ich hatte eine Begleiterin – eine junge Japanerin –, und das machte meine »Herumhängerei« im Hotel ein wenig nachvollziehbarer. Sie hieß Keiko, zumindest lief sie unter diesem Namen bei dem japanischen Begleitservice, der sie mir vermittelt hatte. Sie war Mitte Zwanzig, zu jung für mich, aber sie war hübsch und erstaunlich aufgeweckt, und ich genoss ihre Gesellschaft. Wichtiger war jedoch, dass ich durch ihre Anwesenheit weniger wie ein Geheimdienstmitarbeiter oder ein Killer Marke »einsamer Wolf« wirkte, der das Terrain sondierte, sondern eher wie ein Mann um die Vierzig, der mit seiner Geliebten nach Macau gekommen war, um hier ein wenig dem Glücksspiel zu frönen, vor allem aber viel Zeit ungestört im Hotel zu verbringen.
    Eines Morgens gingen Keiko und ich nach unten in das Hotelrestaurant Girassol zum Frühstücksbuffet. Während uns die Bedienung an einen Tisch führte, suchte ich die Umgebung nach irgendwelchen Gefahrenanzeichen ab, wie ich das aus Gewohnheit immer tue, sobald ich einen Raum betrete. Die Risikopunkte zuerst. Hintere Ecke eins: Tisch mit vier jungen Weißen, zwei Männer, zwei Frauen, alle in Freizeitkleidung. Australischer Akzent. Bedrohungsgrad niedrig. Hintere Ecke zwei: Karate. Hmm. Bedrohungsgrad mittel. Tische an der Wand: leer. Fensterplätze: älteres chinesisches Paar. Nebentisch: drei junge Frauen, modisch gekleidet, selbstbewusstes Auftreten, wahrscheinlich Chinesinnen aus Hongkong, Karrierefrauen auf Kurzurlaub. Nächster Tisch: zwei Inder, Businessanzug, heiterer Punjabi-Akzent. Nichts, was meinen Argwohn geweckt hätte.
    Dann wieder ein Seitenblick zurück zu Karate. Er saß mit dem Rücken zur Wand und hatte einen ungehinderten Blick auf den Eingang des Restaurants, genau die Position, die ich von einem Profi erwartete. Ein weiterer Beweis war die Tatsache, dass er den Raum im Auge behielt. Mir fiel auf, dass er eine aufgeschlagene Zeitung vor sich liegen hatte, obwohl er nicht einen Blick hineinwarf.
    Die vermeintliche Lektüre war eine unnötige Komplikation: Ohne sie hätte er den Raum beobachten können, als wäre er gelangweilt und hätte nichts Besseres zu tun, als Leute zu beobachten. Oder er hätte eine Bekannte mitbringen sollen, so wie ich. Einmal spürte ich, dass er uns ansah, und ich war froh, dass Keiko bei mir war, die mich anlächelte wie eine zufriedene Geliebte. Das Lächeln war höchst überzeugend. Sie verstand was von ihrem Job.
    Aber auf wen wartete er? Auf mich, so hätte ich vermuten können – »nur Paranoide überleben«, hat, glaube ich, mal ein Typ aus Silicon Valley gesagt –, aber ich war ziemlich sicher, dass es nicht um mich ging. Zu viele zufällige Begegnungen ohne Wirkung. Kein Versuch, sich an meine Fährte zu heften oder mein Gesicht zu mustern, kein bohrender Blick, der verriet, das ist er. Nach über einem Vierteljahrhundert in diesem Geschäft habe ich ein Gespür für derlei Dinge entwickelt. Mein Instinkt sagte mir, dass er hinter jemand anderem her war. Zugegeben, es war nicht auszuschließen, dass man ihm nur gesagt hatte wann und wo, aber diese Möglichkeit hielt ich für unwahrscheinlich. Nicht viele Profis würden so einen Job annehmen, ohne zuvor in Erfahrung zu bringen, auf wen sie angesetzt werden. Ansonsten wäre es schwierig, die Preisfrage zu klären.
    Falls es sich um eine lokale Angelegenheit handelte – beispielsweise eine Auseinandersetzung zwischen Triaden –, würde wohl kaum ein Weißer mit dem Job betraut worden sein. Die Triaden, chinesische »Geheimgesellschaften«, die tief in Macau und dem Hauptland verwurzelt sind, regeln ihre Angelegenheiten für gewöhnlich selbst. Wenn ich nun also die zur Verfügung stehenden Informationen addierte und mich selbst von der kurzen Liste möglicher Zielpersonen strich, blieb nur noch ein wahrscheinlicher Kandidat für Karates Interesse: Belghazi.
    Aber wer hatte ihn beauftragt? Wenn es die CIA war, dann bedeutete das eine Verletzung einer meiner drei Grundregeln: keine Frauen oder Kinder, keine Aktionen gegen Personen, die nicht Hauptakteure sind, keine dritte Partei, die mit
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