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Der verlorene Freund: Roman (German Edition)

Der verlorene Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der verlorene Freund: Roman (German Edition)
Autoren: Carlos María Domínguez
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sie etwas gebraucht oder sich nur gewünscht habe, obwohl sein Verhältnis zu ihrer Mutter nicht einfach gewesen sei. Die beiden hatten sich auf einem Kinofestival kennengelernt, waren zwei Jahre zusammen gewesen, dann hatte sie ihn verlassen, entschlossen, das Kind allein zu bekommen. Wegen der Alimente hatte sie sich aber wieder an ihn gewandt, wegen der Bedürfnisse einer Mutter mit allzu vielen Ansprüchen, denn da war nicht nur das Kind, sondern auch ihre Berufung für das Theater, ein wirrer Reigen von Freunden, Geliebten, Ehemännern, weiteren Kindern und all dem, was Eva als eine chaotische Kindheit in Erinnerung hatte, zu der zwei Geschwister, drei Väter und eine ungewisse Anzahl von Großmüttern gehörten. Damals war er ihr Prinz gewesen, so einsam und ernst, wie eine lange Geschichte ernst sein kann, ein großes Eis, Schultern, auf die man klettert. Später war sie zu dem Schluss gekommen, dass er in einer Höhle voll verstaubter, altmodischer Dinge lebte, aber wenn er ihr nicht alles gegeben hätte, so viel begriff sie am Ende, sogar das Zimmer, in das sie zog, als sie sich mit ihrer Mutter zerstritten hatte, und die jahrelangen Therapiesitzungen, sie hätte niemals dieÜbersetzerausbildung beendet oder ihr Glück in Italien versucht, wo sie Arbeit fand, heiratete und zwei Kinder mit einem Mann bekam, den ihr Vater niemals gebilligt hatte. Außer Nina hatte er ihres Wissens nur eine einzige Beziehung gehabt, mit einer etwas älteren Frau, Mutter zweier entsetzlicher Kinder, mit denen sie einmal die Ferien in Atlántida verbracht hatte, und sie wusste noch, wie eifersüchtig sie gewesen war, als sie Nina kennengelernt hatte. Das war an Weihnachten bei Wanda gewesen, die Nina verboten hatte, im Esszimmer zu rauchen, worauf die sich betrank und mit Bruno flirtete, nach dem Essen in den Pool sprang und solche Krämpfe bekam, dass sie sich am Ende in Begleitung von Wanda und Waldemar auf der Intensivstation wiederfand. Damals hatte sie Nina ebenso gehasst, wie sie ihre verbitterte Tante hasste, hatte mit der Zeit jedoch gelernt, Ninas flatterndes Nervenkostüm zu tolerieren, aus Angst, ihr Vater würde wieder allein bleiben. Das hatte er nicht verdient, und sie selbst hatte ihm bereits zu viele Probleme bereitet. »Jeder hat seine eigene Familienhölle«, sagte sie, »ich bin da keine Ausnahme, aber eines Tages stirbt der Prinz, halt, nein, er springt vom Turm! und landet in einem Zimmer voller Sonden und Monitore. Er war nicht fürs Mitleid geschaffen, sondern dafür, all das zu verteidigen, was ich verachtete, all das, was er erreichen wollte, all das, was ihm misslang, und ich hatte geglaubt, dass er besser damit zurechtkam als ich mit meinen Problemen. Jemand, der niemals etwas brauchte, der für sich lebte, stark und unabhängig, auch wenn er mir immer wieder Ratschläge erteilen musste. Den zum Beispiel: Wenn du am Boden bist, vertrau auf dich selbst. Vor allem, wenn du wirklich Mist gebaut hast, denn dann schert sich keiner mehr um dich. Es dauerte lange, bis ich mir mit diesem Spruch aus einem Haufen Schwierigkeiten helfen konnte. Aber dann vergisst der Mensch mit einem Mal, sich selbst einen Ratschlag zu geben, und wirft sich aus dem fünften Stock. Hatte er keine mehr? War sein Kopf nur noch voll von Lektionen, wie man sich umbringt?«
    »Vor Jahren«, fügte sie hinzu, »als er bei uns zu Besuch war, hat es mich gerührt, wie er mit meinem älteren Sohn am Neptunbrunnen saß, wie sie beide den Tauben zusahen, die Schultern hängen ließen, einer ein Spiegelbild des anderen, und ich sagte mir: Mist, ich kenne nur eine Handvoll Anekdoten aus seiner Kindheit, dass er einmal vom Feigenbaum gefallen ist und sich den Arm gebrochen hat, dass bei ihnen zu Hause der Schuppen gebrannt hat und dergleichen Unsinn. Ich kann von Glück sagen, dass ich seine Mutter noch kennengelernt habe, eine etwas verrückte Person, die mit einem Dichter in der Altstadt lebte und die wir sonntags immer besuchten. Er brachte ihr Geld, und wenn der Mann betrunken war, gingen wir runter in die Bar. Sie hatte den Blick eines verschreckten Vogels. Immer fragte sie ihn nach Wanda, denn die kam sie nie besuchen. Wandahatte sich auf die Seite des Seeoffiziers geschlagen, mein Vater auf die Seite dieser Frau, die früher einmal fröhlich gewesen war, meine Großmutter, die mir Blumen aus Papierservietten schenkte. Alte Postkarten. Doch egal, ob ich ihn liebe, hasse oder verdränge, ich sehe immer nur mich selbst, wie vor einem
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