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Der verlorene Freund: Roman (German Edition)

Der verlorene Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der verlorene Freund: Roman (German Edition)
Autoren: Carlos María Domínguez
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traurigem Anlass kennengelernt hatten, bedankte sich für den Anruf und sagte, in den letzten Jahren sei sie ihrem Vater allzu fern gewesen. Überall in der Wohnung hatte sie Bilder von sich gesehen, Dutzende alter Fotos gefunden, einige ihrer Schulhefte sogar, aber es quälte sie, dass ihr die meisten Dinge, die zu seinem Leben gehört hatten, völlig fremd waren. »Ich weiß nicht, ob Sie das verstehen«, sagte sie, »ich wusste von ihm nur, dass er mein Vater war.« Sie hatte ein paar Stunden geschlafen, dann versucht, einen Anwalt ausfindig zu machen, und weiter über den Grund gerätselt, der ihn zu dem Sprung getrieben hatte, denn in der Klinik hatten sie nur wenige Worte wechseln können. Wegen der Schmerzmittel habe er deliriert, lichte Augenblicke seien in unvollendeten Sätzen versandet, zwischen denen er wiederholte, »alles, was war, existiert« oder etwas in dieser Art. In einem seiner klaren Momente habe er sie gebeten, mich anzurufen. Dann hatte er einen Atemstillstand, sie wurde hinausgeschickt und konnte von da an nur noch an den Augenbewegungen unter der Sauerstoffmaske ablesen, dass er sie erkannte.
    Eva betonte noch einmal, dass sie in einem Monat zurückkommen werde, vielleicht könne ich ihr dann bei den Formalitäten zur Hand gehen. Ich sagte, ich stünde zur Verfügung, und nachdem wir uns verabschiedet hatten, wiederholte ich mir Waldemars Satz.Alles, was war, lebt. Leben ist Gedächtnis. Nur was nicht geschah, existiert nicht. Das hörte sich nicht nach einem Geistesblitz an. Die Betäubungsmittel mussten seine Worte durcheinandergewirbelt haben, und ich kombinierte sie neu. »Was existiert, war« ergab keinen Sinn. »Alles, was war, hat existiert« war eine allzu platte Feststellung. Ins Präsens gesetzt, schien der Satz die Zeit zu leugnen. Nach einigem Hin und Her klangen mir die Worte nach dem Buch der Prediger. »Was geschieht, das ist zuvor geschehen, und was geschehen wird, ist auch zuvor geschehen; und Gott sucht wieder auf, was vergangen ist«, besagte der Vers, aber weshalb hatte Waldemar ihn zitiert? Ich suchte den Wortlaut im Internet und fand heraus, dass der Satz von dem Arzt Francis Vardy Davison stammte und seinem Denkmal eingemeißelt war, in Minas de Corrales. Dass Waldemar die Worte zitierte, war seltsam, aber dass sie aus einem kleinen Dorf im Norden Uruguays stammten, war verstörend. Waren sie zufällig an die Oberfläche gekommen? Einen ganzen Nachmittag lang las ich nach, dass Davison, Sohn eines Engländers, der nach Montevideo gezogen war, in Edinburgh studierte, dort als Chirurg zugelassen wurde und 1880 im Auftrag der Gold Fields of Uruguay zurückkehrte, um all die Engländer, Franzosen, Italiener, Basken und ihre einheimischen Nachfahren zu behandeln, die Gold aus den Minen von Corrales abbauten, das sich damals noch Santa Ernestina nannte und einige Kilometer weiter westlich lag. Zwei Jahre später folgte ihm die Krankenschwester Ana Packer, aus Yorkshire gebürtig und Bankierswitwe, und erfüllte ihr Versprechen, ihn zu heiraten. Beide hatten alle Hände voll zu tun, so viele litten unter den Bürgerkriegen, den Sprengungen und der Sonne des Nordens. Davison war ein Anhänger Owens, und als das Unternehmen die McCarthy-Mine aufgab, rief er die Arbeiter zusammen und gründete eine Genossenschaft, so dass sie weiterarbeiten konnten und nicht Hunger leiden mussten. Davison und Packer lebten bis zu ihrem Tod von dem, was ihnen die Leute gaben, zwei Hühner für die Behandlung einer Lungenentzündung, ein Schaf für eine Entbindung, sogar ein Haus baute man für sie, damit sie endlich so würdig lebten, wie es Helden gebührte. Davison war Frühsozialist, Packer hingegen korrespondierte mit der Königin Victoria, die den Dorfkindern Geschenke schickte. Vielleicht hatte er Anleihen bei der Bibel genommen, um das Selbstvertrauen der Minenarbeiter zu stärken: »Wenn sie Gold gefunden haben, können wir das auch.« Es war eine der Geschichten, wie sie die Einwanderung in Amerika geschrieben hatte, doch so interessant die Eroberung des Goldes sein mochte, nichts davon führte mich zu Waldemar.
    Ein paar Wochen später begleitete ich einen Freund zur Versteigerung einer Bibliothek nach Buenos Aires und blieb eine Weile dort, so angenehm war es, in der Menge unterzugehen, die denZügen entstieg, die U-Bahn-Treppen heraufkam, die Cafés, Theater und Plätze überschwemmte. Ich hatte mich einige Jahre vom Großstadtasphalt ferngehalten und war dann nach Montevideo
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