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Der verlorene Freund: Roman (German Edition)

Der verlorene Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der verlorene Freund: Roman (German Edition)
Autoren: Carlos María Domínguez
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zeigten, schwarz gekleidet mit fünfzehn oder sechzehn, das Haar rot gefärbt, die Nase gepierct, dann zusammen mit ihrem Mann und den Kindern in Rom, so dass man den Eindruck hatte, Eva habe zwei oder drei Leben gelebt und in allen in die Kamera gelächelt. Nach Hansens Worten war sie Englischübersetzerin und ihr Mann ein italienischer Zuhältertyp, der mit Reisebüros zu tun hatte. Er war groß, gut aussehend, trug rechts ein funkelndes Armband, doch da mir die Fotos gleich wieder aus der Hand genommen wurden, vermied ich es, ihn in seiner Sorge zu bestärken. Ich weiß nicht, wie es zu unserem Einverständnis gekommen war, doch in den bequemen Chesterfield-Sesseln vor den offenen Balkontüren und den Ästen eines riesigen Tipubaums hörten wir Coltrane, Davis oder Ammons und waren uns einig, dass keiner von uns etwas sagen würde, was er nicht wollte, oder die Neugierde so mancher Frau entwickelte.
    Nach einigen Besuchen fiel mir ein Detail auf. Obwohl er oben in einem Etagenhaus wohnte, hatte er einen Kamin mit Funkenschirm und Hartholzsims, leicht geschwärzt vom Feuer. Rechts darüber hatte der Ruß die Umrisse eines Gegenstands an die Wand gezeichnet, der dort eine Zeitlang gehangen haben musste. Zweimal trat ich, während Waldemar Eiswürfel aus der Küche holte, näher heran, verwundert über die scharfen Umrisse an der leeren Wand. Unter einer feinen Linie schienen sich Voluten zu sammeln, seitlich einer Achse, die zur Basis hin breiter wurde und dann abbrach.
    Beim ersten Mal bemerkte Waldemar meine Neugier und stellte die Eiswürfel auf das Tischchen zwischen den Sesseln. Ich lobte den Kamin, der damals kalt war, weil es auf den Sommer zuging, er legte eine Ben-Webster-Platte auf, schenkte uns ein und zeigte mir das Cover. »Diese subtile Musik kommt von einem Kerl mit dem Bierbauch eines Lastwagenfahrers«, sagte er. »Er könnte ebenso gut Straßenkehrer sein oder Portier in einem Haus, einer Behörde.« Er präsentierte mir mehrere CD -Covers mit dem »Buchhalter« Evans, mit Billie Holiday, »einem Dienstmädchen im Sonntagskleid«, und diesem »Koloss, der gut und gern Wache vor einem Postamt stehen könnte, genannt Charlie Parker«.
    Er hatte sich eingehend damit beschäftigt, sah eine ganz bestimmte Haltung darin, die bereits verrate, dass sie zwei, drei Themen zugleich spielen konnten, denn sie wüssten um den Unterschied zwischendem, was man von einem Menschen erwartet, und dem, was er in sich trägt. »Heute haben wir das wieder vergessen, denn die Rockmusik wurde als Spektakel konzipiert. Aber diese Leute beteten noch …«, schloss er mit einem Lächeln, das ich schon bei manch einer gescheiterten Existenz gesehen hatte: bei einem Betrunkenen, der gerade einen Uppercut aus seinem Boxerleben beschrieb, bei einer Sekretärin, die lange Gedichte von Darío rezitierte, und bei einem Zauberer, der Kinder hasste. Alle strahlten ein paar Minuten lang und erloschen wieder, und hätte Hansen nicht Wert auf meine Zustimmung gelegt, ich hätte geglaubt, er wollte sich produzieren.
    Bei meiner zweiten Inspektion kehrte ich vorsorglich zu den Sesseln zurück, bevor er wieder aus der Küche kam. Er erzählte wenig aus seinem Leben, und ich war nur an einem guten Gespräch interessiert, denn selten findet man jemanden, mit dem man eines führen kann, und so hatten wir uns nach ein paar Stunden zwischen Pizzaresten, Zigarettenasche und den Gläsern mit Eiswürfeln meist ordentlich in Schwung geredet, in die Sessel gefläzt wie zwei junge Kerle. Einen Freund erkennt man an vertraulichen, einfachen Gesten, mag er uns auch bloß ein Glas einschenken, doch eines Tages gesteht er seine Trauer um einen verstorbenen Bruder, und wir sind erstaunt, worüber er bisher hatte schweigen können. Chesterton sagt, die Tragödie des Menschen liege in seiner Einheit. Nur der Wurm könne zerteilt werdenund weiterleben, der Mensch jedoch sehe die Folgen vieler seiner Taten, er könne nicht von seiner Vergangenheit abgetrennt werden, er müsse ernten, was er gesät habe. Das ist ein geistreicher und erschreckender Gedanke. Ich schleppe Erinnerungen mit mir, die zu anderen Leben zu gehören scheinen, und wöge jedes von ihnen nur hundert Gramm, wäre die Krone leichter, die die Könige tragen mussten. Auch meine Freunde wissen im Grunde nicht, was sie mit ihnen anfangen sollen. Da diese Leben für die anderen nicht existieren, zweifelt man selbst an ihnen, bis man eines Tages einen Teller abspült, die Vergangenheit einem auf
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