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Der verlorene Freund: Roman (German Edition)

Der verlorene Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der verlorene Freund: Roman (German Edition)
Autoren: Carlos María Domínguez
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die Schulter tippt und fragt, wie man bloß hierhergekommen ist.
    Waldemar wohnte beim Physiotherapeuten um die Ecke, der donnerstags meine Armsehne behandelte, und nach den Sitzungen ging ich bei ihm vorbei. Der Schmerz verschwand, doch mir blieb die Gewohnheit, ihn zu besuchen. Er sah dann gewöhnlich die Nachrichten, und wenn es etwas Interessantes gab, schalteten wir erst später aus, er holte Eiswürfel, und ich warf den Plattenspieler an. Waldemar meinte, bei uns müsse noch der letzte Motorradunfall zur Nachricht werden, sonst gäbe unsere Wirklichkeit ein beleidigend dürftiges Bild ab. Ich dagegen glaube, dass der Mangel an Nachrichten unserem Land tote Zeit im Überfluss beschert hat, die verantwortlich ist für seine verborgenen Skurrilitäten. Nichts, was gleich ins Auge fiele, bis uns ein Vagabund erzählt, Stevenson sei schuld daran, dass er zum Schmuggler wurde, und der Friseur frühzeitig schließt, weil er zu einem Halma-Turnier geht. Um derlei drehten sich unsere Gespräche, und der Alkohol sorgte für noch sonderbarere Themen. Waldemar liebte Buster Keatons Mangel an Sentimentalität, die ihn an Chaplin störte. Er zog Bachs Suiten den Kantaten vor und war fasziniert von Grosz’ Zeichnungen, nur nicht von denen aus der New Yorker Zeit. Ich begriff schnell, dass er Gefallen an diesem Spiel gefunden hatte, Intimes unter der Hand zu sagen, indem er so tat, als wären alle Kunstwerke an ihn persönlich gerichtet. Wenn ihm das treffende Wort nicht in den Sinn kam, wurde er rot und wechselte das Thema, um nicht stümperhaft über etwas zu sprechen, was ihm wichtig war. Mit der Zeit ahnte ich, dass seine Angst vor Ungenauigkeit mit der Bemühung gewachsen war, sie zu verbannen, so dass sie ihn ständig belauerte, wie einen Musiker die Geräusche ringsum belagern und einen Prediger die Sünden. Mit ihm zusammenzuleben, dürfte für keine Frau einfach gewesen sein.
    Sein Großvater, erzählte er einmal, sei mit der Eisenbahn Richtung Norden davongefahren, seine Spur habe sich in Brasilien verloren. Er ließ Frau und zwei Kinder in Montevideo sitzen, hatte eine Affäre mit einer Arztfrau in Paso de los Toros, verschwand dann nach Rivera, einer Viehzüchtertochter aus Curitiba hinterher. Bei Hansens Vater wurde dieses Vorbild fast Routine, durch ein Offiziersleben vonHafen zu Hafen, und manchmal glaubte Waldemar, dass er selbst Notar geworden war, damit es »in dieser Disziplin« nicht weiter bergab ging. Er bereute es nicht, hätte nur gern die Unbeschwertheit der Engel gehabt, die sich niemals selbst ernst nehmen. Das war unser erster Abstecher auf schlüpfriges Terrain, und ich weiß noch, dass wir die dunkleren Seiten der Geschichte mit Ironie bemäntelten.
    Hansen hatte eine großartige Einstellung zu meiner Raucherei, der ich nach drei Jahren Enthaltsamkeit wieder verfallen war. Er sagte, die Schwächen eines Menschen gehörten zu seiner Lebenslust, nur nicht für die Ärzte, die die Krankheit bloß als Scheitern ihrer Instrumente begriffen. Meine Schwäche hatte mir ein Lungenemphysem beschert, aber ich hatte die Pastillen und Bonbons satt. Ihm ging es gesundheitlich gut, nie hatte ich ihn über etwas anderes als trockene Augen klagen hören, derentwegen er ständig zu Tropfen greifen musste.
    Keine Freundschaft, die ich bisher erlebt hatte, konnte sich, scheint mir, so zuverlässig auf die Überzeugung stützen, dass die Welt an der Oberfläche glänzt und darunter nur gewöhnlich ist. Wir sprachen selten über unser Leben, wussten praktisch nichts voneinander, aber oft reichte ein Blick, und wir verstanden uns. Ich wusste zwar nicht, wer er war, dafür jedoch, dass er mir aufrichtig zuhören, nicht über sein Los jammern und auch mich nicht dazu ermuntern würde. Manchmal spielten wir Schach, manchmal erzählten wir uns Anekdoten von früher, bedächtig wie Männer, die allmählich alt werden.
    Einige Monate lang fand ich mich pünktlich zu unseren Treffen ein, dann setzte ich zwei Wochen aus, wonach Hansen mich anrief und mir vorwarf, wie schnell ich vergessen hätte, ihn zu langweilen. Ich versprach, ihn am nächsten Donnerstag zu besuchen, und traf ihn unruhig an. Schon vor meinem Kommen hatte er zu trinken begonnen, und ich war überrascht, als er sich über die Maler beschwerte, die ihm die Fußleisten der Kaminwand ruiniert hatten, die nun gleichmäßig pastellfarben war. Er sprang von einem Thema zum anderen, als füllte er die Pausen mit dem, was ihm gerade in den Sinn kam. Ich hatte den
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