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Der verlorene Freund: Roman (German Edition)

Der verlorene Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der verlorene Freund: Roman (German Edition)
Autoren: Carlos María Domínguez
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Eindruck, dass er einen Anruf erwartete, einen Besuch vielleicht, und dass meine Gegenwart ihm half, die Nervosität zu dämpfen, doch das Telefon blieb stumm, ebenso die Sprechanlage, und als ich langsam gehen wollte, erzählte er mir, nur um mich aufzuhalten, wie mir schien, er habe vor zwei Jahren seine Tochter in Rom besucht und sei im Sommer nach Venedig gefahren, dort habe ihm eine Grippe übel mitgespielt. Schon am zweiten Tag in seinem Hotel im Rialtoviertel fesselte ihn das Fieber ans Bett, und auch am nächsten Morgen war die Temperatur nicht gesunken, weshalb er alle Kräfte zusammennahm und sich in praller Sonne in die lange Schlange vor dem Dom reihte. San Marco, sagte er, quoll über vor Touristen, und auch die Plätze und Straßen, dieRestaurants und Hotels strebten fröhlich einem Versinken entgegen, das ihre Kameras unweigerlich ablichten würden. Nach zwei Stunden wollte er schon die Schlange verlassen und ins Hotel zurückkehren, aber es fehlten nur noch wenige Meter, und so harrte er hinter dem spanischen Pärchen aus, das so aufmerksam war, sich Sorgen zu machen und ihn zu fragen, ob es ihm gut gehe. Kaum war er drinnen, schüttelte es ihn im kühlen Kirchendunkel, er musste nur das Gold der Mosaiken an Bögen und Kuppeln sehen und verlor das Gefühl für das Maß der Dinge. Raunende Stimmen schienen sich von den fünf Kuppeln über die Kinder zu ergießen, die an ihren Müttern zerrten, über all die Männer und Frauen, die sich dem langsamen Schritt derer fügten, die schon gesehen oder noch nicht gesehen hatten, wie sich da der Wille manifestierte, Gott über die Jahrhunderte hinweg zu preisen. Schleunigst sei er zu den Toiletten gegangen, nur um den Vorwurf aus seinem Kopf zu verbannen, dass er niemals etwas Schönes zustande gebracht hatte, so bescheiden und gering es auch sein mochte, das zu einem vergleichbaren Werk beigetragen hätte. Da konnten Geschäftswelt und Gericht nicht mithalten, weder die staatliche Versicherungsgesellschaft noch die Industriebank, kein einziges der Unternehmen, der Verbände und Ministerien, deren Papiere durch seine Hände gegangen waren. »Natürlich war das ein dummer Gedanke. Aber wie in Wellen schien das Lärmen der Bauarbeiten über michhereinzubrechen, die Rufe auf den Gerüsten, all die Stimmen der Generationen von Handwerkern.«
    Er konnte erst aufatmen, als er wieder draußen auf dem Platz stand und sich unter der Mittagssonne an die Stirn fasste, ausgestoßen von der Pracht, doch insgeheim dankbar. Das Erlebnis wiederholte sich im Dogenpalast vor den Tintorettos und Tizians, und als er am Nachmittag eine Ausstellung über Lucian Freud und andere Pavillons der Biennale besuchte, hätte er beinahe die Besinnung verloren.
    »Ich erspare dir die Einzelheiten«, sagte er, »zwei Tage lag ich im Fieberwahn und wagte nicht, das Hotel zu verlassen.« In Waldemars Kopf verschwammen zwei ganze Tage und Nächte lang Freuds morbide Körper mit dem blitzenden Gold, den Himmelsscharen und dem Video eines Apfels im verdunkelten Teil eines Pavillons, in den in Endlosschleife eine Gabel stach. All das tanzte ihm so eigenmächtig vor den Augen, dass er von einem wirren Gedanken zum nächsten taumelte. Er glaubte nicht an Gott. Hatte es nicht einmal in der Kindheit getan, als seine Mutter ihn partout hatte katholisch erziehen wollen, aber nun peinigte ihn die Frömmigkeit bis zur Besinnungslosigkeit, und ob schlafend oder wachend, die Menge war nicht zu vertreiben, die an seinem Bett vorbeidefilierte und seinen schweißnassen Bauch besichtigte, die Knie, die schlaffen Hoden, ungerührt von der Angst, die es ihm bereitete, weiter hinten Tizians heiligen Christophorus mit demJesuskind auf der Schulter und im einzigen Fenster des Zimmers den Apfel schweben zu sehen, in den die Gabel stach. »Ich erzähle dir das als Grenzerfahrung. Dieses Gefühl von Zerbrechlichkeit und Scham begleitete mich bis nach Rom, wo ich unter Evas Pflege meine Grippe auskurierte, ja es begleitet mich noch heute.«
    Waldemar schlug die Augen nieder und versank im Sessel. Als fürchtete er, eine rote Linie überschritten zu haben, und ich wollte ihm nicht widersprechen. Stattdessen sagte ich, bei meinem Besuch der Biennale hätte ich einen riesigen Ventilator am Ende eines roten Gangs gesehen, der Name des Werks – den des Künstlers hätte ich wohl zu Recht vergessen – habe gelautet: Der Windtunnel.
    »Genau …«, sagte er. »Zuerst empfand ich es als Beleidigung, als Angriff auf meine
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