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Byrne & Balzano 3: Lunatic

Titel: Byrne & Balzano 3: Lunatic
Autoren: Richard Montanari
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Prolog
    August 2001
    I n seinen Träumen leben sie noch. In seinen Träumen sind sie zu hübschen jungen Frauen herangereift, die Familien haben, Berufe, eigene Wohnungen. In seinen Träumen sind sie leuchtende Wesen unter einer goldenen Sonne.
    Detective Walter Brigham schlug die Augen auf. Sein Herz fühlte sich wie ein harter, kalter Stein an. Er schaute auf die Uhr, obwohl es gar nicht nötig gewesen wäre. Er wusste, wie spät es war: 3.50 Uhr. Genau die Zeit, als er vor sechs Jahren den Anruf bekommen hatte, der die Trennungslinie zwischen jedem Tag davor und jedem Tag danach markierte.
    Wenige Sekunden zuvor hatte er in seinem Traum am Waldrand gestanden, und der Frühlingsregen hing wie ein eisiger Schleier über seiner Welt. Jetzt lag er in seinem Schlafzimmer in West-Philadelphia wach im Bett. Er war schweißüberströmt. In der Stille war nur der regelmäßige Atem seiner Frau zu hören.
    Walt Brigham hatte in seinen Dienstjahren viel gesehen. Einmal hatte er erlebt, wie der Angeklagte in einem Drogenprozess im Gerichtssaal versucht hatte, sein eigenes Fleisch zu essen. Ein anderes Mal hatte er den halb verwesten Leichnam einer Bestie in Menschengestalt gefunden – Joseph Barber, ein Pädophiler, Vergewaltiger und Mörder. Der Tote war in einem Wohnhaus in Nord-Philadelphia an ein Dampfrohr gebunden, dreizehn Messerstiche in der Brust. Ein anderes Mal hatte Walt Brigham einen Detective der Mordkommission gesehen, der in Brewerytown auf dem Bordstein gesessen hatte, lautlos weinend, einen blutverschmierten Babyschuh in der Hand. Der Mann war John Longo, Brighams Partner, ein narbiger Veteran in seinem Job. Es war Johnny Longos Fall gewesen, und Johnny hatte versagt.
    Jeder Cop hatte solch einen ungelösten Fall, ein Verbrechen, das ihn von früh bis spät und bis in seine Träume hinein verfolgte. Wenn ein Detective nicht dem Alkohol verfiel, nicht an Krebs erkrankte oder von einer Kugel getroffen wurde, bescherte Gott ihm einen ungelösten Fall.
    Für Walt Brigham begann dieser Fall im April 1995, an dem Tag, als zwei kleine Mädchen den Wald im Fairmount Park betraten und nie wieder herauskamen – das schlimmste Horrorszenario, das Eltern in ihren Albträumen quälen konnte.
    Als Brigham die Augen schloss, stieg ihm der Geruch von feuchtem Lehm, Kompost und nassem Laub in die Nase. Annemarie und Charlotte trugen hübsche weiße Kleider. Beide waren neun Jahre alt.
    Die Mordkommission hatte Hunderte von Personen vernommen, die an jenem Tag in dem Park gewesen waren, und die Beamten hatten zwanzig Säcke Müll in der Umgegend gesammelt und durchsucht. Brigham hatte ganz in der Nähe eine Seite gefunden, die aus einem Kinderbuch herausgerissen war. Seit diesem Augenblick ging der Vers ihm unaufhörlich durch den Kopf:
    Kleine Mädchen, hübsch und fein,
    tanzen einen Ringelreih’n.
    Wie zwei Kreisel, summ, summ, summ,
    dreh’n sie sich im Kreis herum.
    Brigham starrte an die Decke. Er küsste seine Frau auf die Schulter, richtete sich auf und schaute durch das offene Fenster. Die Stadt war in Dunkelheit getaucht. Hinter dem Stahl, Glas und Beton sah er im Mondschein die dichten Baumkronen des Kiefernwaldes, durch den sich ein Schatten bewegte.
    Hinter dem Schatten – ein Killer.
    Eines Tages würde Walter Brigham diesem Killer gegenüberstehen.
    Eines Tages.
    Vielleicht schon heute.
     
     

Erster Teil
    Im Wald

1.
    Dezember 2006
    E r ist Moon, und er glaubt an Zauberei.
    Nicht an die Zauberei, wie sie auf der Bühne gezeigt wird, mit Falltüren und doppelten Böden und Taschenspielertricks. Auch nicht an die gefährlichen und trügerischen Illusionen, wie sie durch Drogen entstehen. Nein, Moon glaubt an die Magie, die Bohnenstängel bis in den Himmel wachsen lässt, die aus Stroh Gold spinnt und einen Kürbis in eine Kutsche verwandelt.
    Moon mag die hübsche junge Frau, die so gerne tanzt.
    Er hatte sie lange Zeit beobachtet. Sie ist Anfang zwanzig, schlank und größer als ihre Altersgenossinnen. Sehr hübsch. Ihre Bewegungen sind voller Anmut.
    Bestimmt weiß sie ebenso wie er, dass allen Dingen ein Zauber innewohnt, eine unsichtbare Eleganz – die makellose Schönheit eines Blütenblattes, die wundervolle Symmetrie eines Schmetterlingsflügels, die perfekte Geometrie des Himmels.
    Am Tag zuvor hatte Moon gegenüber vom Waschsalon in der Dunkelheit gestanden und beobachtet, wie die junge Frau Wäsche in den Trockner stopfte. Moon hatte gestaunt, wie graziös sie sich dabei bewegte. Es war ein
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