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Der Verdacht

Der Verdacht

Titel: Der Verdacht
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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brauchen – kommt man nicht von selbst, wie wenn dergleichen einfach aus dem heiteren Himmel heraus möglich wäre. Und sicher dann vor allem nicht, wenn man noch gar ein Kommissär der Stadtpolizei Bern ist, als ob ich einen Fahrraddiebstahl oder eine Abtreibung begangen hätte. Sehen wir uns doch einmal meinen Fall an – Sie, der Sie ja nun keine Chance mehr haben, dürfen die Wahrheit vernehmen, das Vorrecht der Verlorenen. Ich war vorsichtig, gründlich und pedantisch – in dieser Hinsicht habe ich saubere Facharbeit geleistet –, aber trotz aller Vorsicht gibt es natürlich Indizien gegen mich. Ein indizienloses Verbrechen ist in dieser Welt des Zufalls unmöglich. Zählen wir auf: Wo konnte der Kommissär Hans Bärlach einsetzen? Da ist einmal die Fotografie im ‹Life›. Wer die Tollkühnheit hatte, sie in jenen Tagen zustande zu bringen, weiß ich nicht; es genügt mir, daß sie vorhanden ist. Schlimm genug. Doch wollen wir die Sache nicht übertreiben. Millionen haben einmal diese berühmte Fotografie gesehen, darunter sicher viele, die mich kennen: und doch hat mich bis jetzt keiner erkannt, das Bild zeigt zu wenig von meinem Gesicht. Wer konnte mich nun erkennen? Entweder einer, der mich in Stutthof gesehen hat und mich hier kennt – eine geringe Möglichkeit, da ich die Subjekte, die ich mir aus Stutthof mitnahm, in der Hand habe; doch, wie jeder Zufall, nicht ganz von der Hand zu weisen – oder einer, der mich von meinem Leben in der Schweiz vor zweiunddreißig her in ähnlicher Erinnerung hatte. Es gibt in dieser Zeit einen Vorfall, den ich als junger Student in einer Berghütte erlebt habe – o ich erinnere mich sehr genau –, es geschah vor einem roten Abendhimmel: Hungertobel war einer der fünf, die damals zugegen waren. Es ist daher anzunehmen, daß Hungertobel mich erkannte.»
    «Unsinn», sagte der Alte bestimmt; das sei eine unberechtigte Idee, eine leere Spekulation, sonst nichts. Er ahnte, daß der Freund bedroht war, ja, in großer Gefahr schwebte, wenn es ihm nicht gelang, jeden Verdacht von Hungertobel abzulenken, obgleich er sich nicht recht vorstellen konnte, worin denn diese Gefahr bestehe.
    «Fällen wir das Todesurteil über den armen alten Doktor nicht zu schnell. Gehen wir vorher zu andern möglichen Indizien über, die gegen mich vorliegen, versuchen wir ihn reinzuwaschen», fuhr Emmenberger fort, sein Kinn auf die verschränkten, auf der Lehne liegenden Arme gestützt. «Die Angelegenheit mit Nehle. Auch die haben Sie herausgefunden, Herr Kommissär, ich gratuliere, das ist erstaunlich, die Marlok hat es mir berichtet. Geben wir es denn zu: ich habe Nehle selbst die Narbe in die rechte Augenbraue hineinoperiert und die Brandwunde in den linken Unterarm, die auch ich besitze, um uns identisch zu machen, einen aus zwei. Ich habe ihn unter meinem Namen nach Chile geschickt und ihn – als der treuherzige Naturbursche, der nie Lateinisch und Griechisch lernen konnte, diese erstaunliche Begabung auf dem unermeßlichen Gebiet der Medizin, unserer Verabredung gemäß heimkehrte – in einem windschiefen zerbröckelten Hotelzimmer im Hamburger Hafen gezwungen, eine Blausäurekapsel einzunehmen. C'est ça, würde meine schöne Geliebte sagen. Nehle war ein Ehrenmann. Er schickte sich in sein Schicksal – einige energische Handgriffe meinerseits will ich verschweigen – und täuschte den schönsten Selbstmord vor, den man sich denken kann. Sprechen wir nicht mehr über diese Szene mitten unter Dirnen und Matrosen, die sich im neblichten Morgengrauen einer halbverkohlten und vermoderten Stadt abspielte, in die das dumpfe Tuten verlorener Schiffe melancholisch genug hineintönte. Diese Geschichte war ein gewagtes Spiel, das mir immer noch bitterböse Streiche spielen kann; denn was weiß ich schon, was alles der begabte Dilettant in Santiago trieb, welche Freundschaften er da unterhielt und wer plötzlich hier in Zürich erscheinen könnte, Nehle zu besuchen. Doch halten wir uns an die Tatsachen. Was spricht gegen mich, falls jemand auf diese Spur kommt? Da ist vor allem Nehles ehrgeiziger Einfall, in die ‹Lancet› und in die Schweizerische medizinische Wochenschrift Artikel zu schreiben; er könnte sich als ein fatales Indizium erweisen, falls es sich jemand einfallen ließe, stilistische Vergleichungen mit meinen einstigen Artikeln zu unternehmen. Nehle schrieb gar zu hemmungslos berlinerisch. Dazu aber muß man die Artikel lesen, was wieder auf einen Arzt schließen läßt.
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