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Der Verdacht

Der Verdacht

Titel: Der Verdacht
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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Lagerarzt Nehle führt an einem Häftling eine Bauchoperation ohne Narkose durch und ist dabei photographiert worden.»
    Das hätten die Nazis manchmal getan, sagte der Arzt und sah sich das Bild an, erbleichte jedoch, wie er die Zeitschrift schon weglegen wollte.
    «Was hast du denn?» fragte der Kranke verwundert.
    Hungertobel antwortete nicht sofort. Er legte die aufgeschlagene Zeitschrift auf Bärlachs Bett, griff in die rechte obere Tasche seines weißen Kittels und zog eine Hornbrille hervor, die er – wie der Kommissär bemerkte – sich etwas zitternd aufsetzte; dann besah er sich das Bild zum zweiten Mal.
    «Warum ist er denn so nervös?» dachte Bärlach.
    «Unsinn», sagte endlich Hungertobel ärgerlich und legte die Zeitschrift auf den Tisch zu den anderen. «Komm, gib mir deine Hand. Wir wollen nach dem Puls sehen.»
    Es war eine Minute still. Dann ließ der Arzt den Arm seines Freundes fahren und sah auf die Tabelle über dem Bett.
    «Es steht gut mit dir, Hans.»
    «Noch ein Jahr?» fragte Bärlach.
    Hungertobel wurde verlegen. «Davon wollen wir jetzt nicht reden», sagte er. «Du mußt aufpassen und wieder zur Untersuchung kommen.»
    Er passe immer auf, brummte der Alte.
    Dann sei es ja gut, sagte Hungertobel, indem er sich verabschiedete.
    «Gib mir doch noch das ‹Life›», verlangte der Kranke scheinbar gleichgültig. Hungertobel gab ihm eine Zeitschrift vom Stoß, der auf dem Nachttisch lag.
    «Nicht die», sagte der Kommissär und blickte etwas spöttisch nach dem Arzt: «Ich will jene, die du mir genommen hast. So leicht komme ich nicht von einem Konzentrationslager los.»
    Hungertobel zögerte einen Augenblick, wurde rot, als er Bärlachs prüfenden Blick auf sich gerichtet sah, und gab ihm die Zeitschrift. Dann ging er schnell hinaus, so als sei ihm etwas unangenehm. Die Schwester kam. Der Kommissär ließ die anderen Zeitschriften hinaustragen.
    «Die nicht?» fragte die Schwester und wies auf die Zeitung, die auf Bärlachs Bett lag.
    «Nein, die nicht», sagte der Alte.
    Als die Schwester gegangen war, schaute er sich das Bild von neuem an. Der Arzt, der das bestialische Experiment ausführte, wirkte in seiner Ruhe götzenhaft. Der größte Teil des Gesichts war durch den Nasen- und Mundschutz verdeckt.
    Der Kommissär versorgte die Zeitschrift in seiner Nachttischschublade und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Er hatte die Augen weit offen und sah der Nacht zu, die immer mehr das Zimmer füllte. Licht machte er nicht.
    Später kam die Schwester und brachte das Essen. Es war immer noch wenig und Diät: Haferschleimsuppe. Den Lindenblütentee, den er nicht mochte, ließ er stehen. Nachdem er die Suppe ausgelöffelt hatte, löschte er das Licht und sah von neuem in die Dunkelheit, in die immer undurchdringlicheren Schatten.
    Er liebte es, die Lichter der Stadt durchs Fenster fallen zu sehen.
    Als die Schwester kam, den Kommissär für die Nacht herzurichten, schlief er schon.
    Am Morgen um zehn kam Hungertobel.
    Bärlach lag in seinem Bett, die Hände hinter dem Kopf, und auf der Bettdecke lag die Zeitschrift aufgeschlagen. Seine Augen waren aufmerksam auf den Arzt gerichtet. Hungertobel sah, daß es das Bild aus dem Konzentrationslager war, das der Alte vor sich hatte.
    «Willst du mir nicht sagen, warum du bleich geworden bist wie ein Toter, als ich dir dieses Bild im ‹Life› zeigte?» fragte der Kranke.
    Hungertobel ging zum Bett, nahm die Tabelle herunter, studierte sie aufmerksamer denn gewöhnlich und hängte sie wieder an ihren Platz. «Es war ein lächerlicher Irrtum, Hans», sagte er. «Nicht der Rede wert.»
    «Du kennst diesen Doktor Nehle?» Bärlachs Stimme klang seltsam erregt.
    «Nein», antwortete Hungertobel. «Ich kenne ihn nicht. Er hat mich nur an jemanden erinnert.»
    Die Ähnlichkeit müsse groß sein, sagte der Kommissär.
    Die Ähnlichkeit sei groß, gab der Arzt zu und schaute sich das Bild noch einmal an, von neuem beunruhigt, wie Bärlach deutlich sehen konnte. Aber die Photographie zeige auch nur die Hälfte des Gesichts. Alle Ärzte glichen sich beim Operieren, sagte er.
    «An wen erinnert dich denn diese Bestie?» fragte der Alte unbarmherzig.
    «Das hat doch alles keinen Sinn!» antwortete Hungertobel. «Ich habe es dir gesagt, es muß ein Irrtum sein.»
    «Und dennoch würdest du schwören, daß er es ist, nicht wahr, Samuel?»
    Nun ja, entgegnete der Arzt. Er würde es schwören, wenn er nicht wüßte, daß es der Verdächtigte nicht sein könne.
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