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Der Verdacht

Der Verdacht

Titel: Der Verdacht
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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unheimlich in seiner wilden Zerlumptheit, und pfiff mit den Fingern seiner rechten Hand schrill und durchdringend, wie man einem Hund pfeift. Da schob sich die Metallfläche über dem Fenster in die Höhe, affenartig sprang ein kleiner schwarzer Schatten mit einem tollkühnen Überschlag ins Zimmer, unverständliche gurgelnde Laute ausstoßend, glitt blitzschnell zu Gulliver und sprang ihm auf den Schoß, das häßliche, greisenhafte Zwergengesicht an des Juden zerfetzte Brust gepreßt, dessen mächtigen haarlosen Schädel mit den kleinen verkrüppelten Ärmchen umschlingend.
    «Da bist du ja, mein Äffchen, mein Tierchen, mein kleines Höllenmonstrum», herzte der Jude den Zwerg mit singender Stimme. «Mein armer Minotaurus, mein geschändetes Heinzelmännchen, der du so oft in den blutroten Nächten von Stutthof weinend und winselnd in meinen Armen eingeschlafen bist, du einziger Gefährte meiner armen Judenseele! Du mein Söhnlein, du meine Alraunwurzel. Belle, mein verwachsener Argos, Odyß ist zu dir zurückgekehrt auf seiner endlosen Irrfahrt. Oh, ich habe es mir gedacht, daß du den armen betrunkenen Fortschig in ein anderes Leben gebracht hast, daß du in den Lichtschacht geglitten bist, mein großer Molch, wurdest du doch schon damals in unserer Schinderstadt zu solchen Kunststücken dressiert vom bösen Hexenmeister Nehle, oder Emmenberger, oder Minos, was weiß ich, wie er heißt. Da, beiß in meinen Finger, mein Hündchen! Und wie ich neben Hungertobel im Wagen sitze, höre ich ein freudiges Gewinsel hinter mir, wie das einer räudigen Katze. Es war mein armer kleiner Freund, Kommissar, den da meine Faust hinter dem Sitz hervorzog. Was wollen wir nun mit diesem kleinen Tierchen machen, das doch ein Mensch ist, mit diesem Menschlein, das man doch vollends zu einem Tier entwürdigte, mit diesem Mörderchen, das allein von uns allen unschuldig ist, aus dessen traurigen, braunen Augen uns der Jammer aller Kreatur entgegensieht?»
    Der Alte hatte sich in seinem Bett aufgerichtet und sah nach dem gespenstischen Paar, nach diesem gemarterten Juden und nach dem Zwerg, den der Riese auf seinen Knien wie ein Kind tanzen ließ.
    «Und Emmenberger?» fragte er, «was ist mit Emmenberger?»
    Da wurde des Riesen Antlitz wie ein grauer vorweltlicher Stein, in den hinein die Narben wie mit einem Meißel gehauen waren. Er schmetterte die eben geleerte Flasche mit einem Schwung seiner gewaltigen Arme gegen die Schränke, daß ihr Glas zersplitterte, daß der Zwerg, pfeifend wie eine Ratte vor Angst, mit einem Riesensprung sich unter dem Operationstisch versteckte.
    «Was frägst du danach, Kommissar?» zischte der Jude, doch hatte er sich blitzschnell wieder gefaßt – nur die fürchterlichen Schlitze der Augen funkelten gefährlich –, und gemächlich holte er eine zweite Flasche aus seinem Kaftan und begann von neuem in wilden Zügen zu trinken. «Es macht durstig, in einer Hölle zu leben. Liebet eure Feinde wie euch selbst, sagte einer auf dem steinigen Hügel Golgatha und ließ sich ans Kreuz schlagen, an dessen elendem, halb verfaultem Holz er hing, mit einem flatternden Tuch um die Lenden. Bete für Emmenbergers arme Seele, Christ, nur die kühnen Gebete sind Jehova gefällig. Bete! Er ist nicht mehr, der, nach dem du fragst. Mein Handwerk ist blutig, Kommissar, ich darf nicht an theologische Studien denken, wenn ich meine Arbeit verrichten muß. Ich war gerecht nach dem Gesetze Mosis, gerecht nach meinem Gotte, Christ. Ich habe ihn getötet, wie einst Nehle in irgendeinem ewig feuchten Hotelzimmer Hamburgs getötet wurde, und die Polizei wird ebenso unfehlbar auf Selbstmord schließen, wie sie damals darauf geschlossen hat. Was soll ich dir erzählen? Meine Hand führte die seine, von meinen Armen umschlungen, preßte er sich die tödliche Kapsel zwischen die Zähne. Des Ahasver Mund ist schweigsam, und seine blutleeren Lippen bleiben geschlossen. Was zwischen uns vorging, zwischen dem Juden und seinem Peiniger, und wie sich die Rollen nach dem Gesetz der Gerechtigkeit vertauschen mußten, wie ich der Peiniger und er das Opfer wurde, das wisse außer uns zweien Gott allein, der dies alles zuließ. Wir müssen Abschied voneinander nehmen, Kommissar.»
    Der Riese stand auf.
    «Was wird nun?» flüsterte Bärlach.
    «Nichts wird», antwortete der Jude, packte den Alten bei den Schultern und riß ihn gegen sich, so daß ihre Gesichter nah beieinander waren, Auge in Auge getaucht. «Nichts wird, nichts», flüsterte
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