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Der Verdacht

Der Verdacht

Titel: Der Verdacht
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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fuhr der salbungsvolle Berichterstatter des Bernischen Bundesblattes fort, ‹dem die Natur doch so schöne Talente verlieh, hatte es nicht verstanden, die ihm anvertrauten Pfunde zu verwalten. Er begann (hieß es weiter) mit expressionistischen Dramen, die bei Asphaltliteraten Aufsehen erregten, doch vermochte er die dichterischen Kräfte immer weniger zu formen (aber es waren wenigstens dichterische Kräfte, dachte der Alte bitter), bis er auf die unglückliche Idee verfiel, mit dem ‹Apfelschuß› eine eigene Zeitung herauszugeben, die denn auch in einer Auflage von etwa fünfzig schreibmaschinengeschriebenen Exemplaren unregelmäßig genug erschien. Wer je den Inhalt dieses Skandalblattes gelesen hat, weiß genug: es bestand aus Angriffen, die sich nicht nur gegen alles, was uns hoch und heilig ist, sondern auch gegen allgemein bekannte und geschätzte Persönlichkeiten richteten. Er kam immer mehr herunter, und man sah ihn öfters betrunken, mit seinem stadtbekannten gelben Halstuch - man nannte ihn in der unteren Stadt die Zitrone -, von einem Wirtshaus ins andere wanken, von einigen Studenten begleitet, die ihn als Genie hochleben ließen. Über das Ende des Dichters ist folgendes ermittelt worden: Fortschig war seit Neujahr ständig mehr oder weniger betrunken. Er hatte – von irgendeinem gutmütigen Privatmann finanziert – wieder einmal seinen ‹Apfelschuß› herausgegeben, ein besonders trauriges Exemplar freilich, da er darin einen von der Ärzteschaft als absurd bezeichneten Angriff gegen einen unbekannten, wahrscheinlich erfundenen Arzt richtete, in der herostratischen Absicht, unter allen Umständen einen Skandal zu erregen. Wie erfunden der ganze Angriff war, geht schon daraus hervor, daß der Schriftsteller, der im Artikel pathetisch den nichtgenannten Arzt aufforderte, sich der Stadtpolizei Zürich zu stellen, gleichzeitig überall herumschwatzte, er wolle für zehn Tage nach Paris verreisen, doch kam er nicht dazu. Schon um einen Tag hatte er die Abreise verschoben und gab nun in der Nacht auf den Mittwoch in seiner armseligen Wohnung in der Keßlergasse ein Abschiedsessen, dem der Musiker Bötzinger und die Studenten Friedling und Stürler beiwohnten. Gegen vier Uhr morgens begab sich Fortschig – er war schwer betrunken – in die Toilette, die sich auf der anderen Seite des Korridors gegenüber seinem Zimmer befindet. Da er die Türe zu seinem Arbeitsraum offenließ, man wollte die Schwaden beißenden Tabakrauchs etwas verziehen lassen, war die Türe der Toilette allen drei sichtbar, die an Fortschigs Tisch weiterzechten, ohne daß ihnen etwas besonders auffiel. Beunruhigt, als er nach einer halben Stunde noch nicht zurückgekommen war und als er auf ihr Rufen und Klopfen nicht antwortete, rüttelten sie an der verschlossenen Toilettentüre, ohne sie öffnen zu können. Der Polizist Gerber und der Securitaswächter Brenneisen, die Bötzinger von der Straße heraufholte, erbrachen die Türe mit Gewalt: Man fand den Unglücklichen tot auf dem Boden zusammengekrümmt. Über den Hergang des Unglücks ist man sich nicht im klaren. Doch kommt ein Verbrechen nicht in Frage, wie in der heutigen Presseorientierung der Untersuchungsrichter Lutz feststellte. Weist die Untersuchung zwar darauf hin, daß irgendein harter Gegenstand von oben Fortschig traf, so wird dies durch den Ort unmöglich gemacht. Der Lichtschacht, gegen den sich das kleine Toilettenfenster öffnet (die Toilette befindet sich im vierten Stock), ist schmal, und es ist unmöglich, daß ein Mensch dort hinauf- oder hinunterklettern könnte: entsprechende Experimente der Polizei beweisen dies eindeutig. Auch mußte die Türe von innen verriegelt worden sein, denn die bekannten Kunstgriffe, mit denen dies vorgetäuscht werden könnte, fallen nicht in Betracht. Die Türe ist ohne Schlüsselloch und mit einem schweren Riegel schließbar. Es bleibt keine Erklärung, als einen unglücklichen Sturz des Schriftstellers anzunehmen, um so mehr, da er ja, wie Professor Dettling ausführte, sinnlos betrunken war...›
    Kaum hatte dies der Alte gelesen, ließ er die Zeitung fallen. Seine Hände verkrallten sich in der Bettdecke.
    «Der Zwerg, der Zwerg!» schrie er ins Zimmer hinein, da er mit einem Schlag begriffen hatte, wie Fortschig umgekommen war.
    «Ja, der Zwerg», antwortete eine ruhige, überlegene Stimme von der Türe her, die sich unmerklich geöffnet hatte.
    «Sie werden mir zugeben, Herr Kommissär, daß ich mir einen Henker
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