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Der Verdacht

Der Verdacht

Titel: Der Verdacht
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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Sie sehen, es steht schlecht um unseren Freund. Zwar ist er arglos, geben wir das zu seinen Gunsten zu. Doch wenn sich zu ihm noch ein Kriminalist gesellt, was ich anzunehmen gezwungen bin, kann ich für den Alten nicht mehr die Hand ins Feuer legen.»
    «Ich bin im Auftrag der Polizei hier», antwortete der Kommissär ruhig. «Die deutsche Polizei faßte gegen Sie Verdacht und hat die Polizei der Stadt Bern beauftragt, Ihren Fall zu untersuchen. Sie werden mich heute nicht operieren, denn mein Tod würde Sie überweisen. Auch Hungertobel werden Sie in Ruhe lassen.»
    «Elf Uhr zwei», sagte der Arzt.
    «Ich sehe», antwortete Bärlach.
    «Die Polizei, die Polizei», fuhr Emmenberger fort und sah den Kranken nachdenklich an. «Es ist natürlich damit zu rechnen, daß sogar die Polizei hinter mein Leben kommen kann, doch scheint mir dies hier unwahrscheinlich zu sein, weil es für Sie der günstigste Fall wäre. Die deutsche Polizei, welche die Stadtpolizei Bern beauftragt, einen Verbrecher in Zürich zu suchen! Nein, das scheint mir nicht ganz logisch. Ich würde es vielleicht glauben, wenn Sie nicht krank wären, wenn es mit Ihnen nicht gerade auf Leben und Tod ginge: Ihre Operation und Ihre Krankheit ist ja nicht gespielt, das kann ich als Arzt entscheiden. Ebensowenig Ihre Entlassung, von der die Zeitungen berichten. Was sind Sie denn für ein Mensch? Vor allem ein zäher und hartnäckiger alter Mann, der sich ungern geschlagen gibt und wohl auch nicht gern abdankt. Die Möglichkeit ist vorhanden, daß Sie privat, ohne jede Unterstützung, ohne Polizei, gegen mich ins Feld gezogen sind, gewissermaßen samt Ihrem Krankenbett, auf einen vagen Verdacht hin, den Sie in einem Gespräch mit Hungertobel gefaßt haben, ohne einen wirklichen Beweis. Vielleicht waren Sie noch zu stolz, irgend jemand außer Hungertobel einzuweihen, und auch der scheint seiner Sache höchst unsicher zu sein. Es ging Ihnen nur darum, auch als kranker Mann zu beweisen, daß Sie mehr als die verstehen, welche Sie entlassen haben. Dies alles halte ich für wahrscheinlicher als die Möglichkeit, daß sich die Polizei zu dem Schritt entschließt, einen schwerkranken Mann in ein so heikles Unternehmen zu stürzen, um so mehr, als ja die Polizei bis zur Stunde im Falle des toten Fortschig nicht auf die richtige Spur kam, was doch hätte geschehen müssen, wenn sie gegen mich Verdacht gefaßt hätte. Sie sind allein und Sie gehen allein gegen mich vor, Herr Kommissär. Auch den heruntergekommenen Schriftsteller halte ich für ahnungslos.»
    «Warum haben Sie ihn getötet?» schrie der Alte.
    «Aus Vorsicht», antwortete der Arzt gleichgültig. «Zehn nach elf. Die Zeit eilt, mein Herr, die Zeit eilt. Auch Hungertobel werde ich aus Vorsicht töten müssen.»
    «Sie wollen ihn töten?» rief der Kommissär und versuchte sich aufzurichten.
    «Bleiben Sie liegen!» befahl Emmenberger so bestimmt, daß der Kranke gehorchte. «Es ist heute Donnerstag», sagte er. «Da nehmen wir Ärzte einen freien Nachmittag, nicht wahr. Da dachte ich, Hungertobel, Ihnen und mir eine Freude zu machen, und bat ihn, uns zu besuchen. Er wird im Wagen von Bern kommen.»
    «Was wird geschehen?»
    «Hinten in seinem Wagen wird mein kleiner Däumling sitzen», entgegnete Emmenberger.
    «Der Zwerg», schrie der Kommissär.
    «Der Zwerg», bestätigte der Arzt. «Immer wieder der Zwerg. Ein nützliches Werkzeug, das ich mir aus Stutthof heimbrachte. Es geriet mir schon damals zwischen die Beine, dieses lächerliche Ding, wenn ich operierte, und nach dem Reichsgesetz des Herrn Heinrich Himmler hätte ich den Knirps als lebensunwert töten müssen, als ob je ein arischer Riese lebenswerter gewesen wäre! Wozu auch? Ich habe Kuriositäten immer geliebt, und ein entwürdigter Mensch gibt noch immer das zuverlässigste Instrument. Weil der kleine Affe spürte, daß er mir das Leben verdankte, ließ er sich aufs nützlichste dressieren.»
    Die Uhr zeigte elf Uhr vierzehn.
    Der Kommissär war so müde, daß er auf Momente die Augen schloß; und immer wieder, wenn er sie öffnete, sah er die Uhr, immer wieder die große, runde, schwebende Uhr. Er begriff nun, daß es keine Rettung mehr für ihn gab. Emmenberger hatte ihn durchschaut. Er war verloren, und auch Hungertobel war verloren.
    «Sie sind ein Nihilist», sagte er leise, fast flüsternd in den schweigenden Raum hinein, in welchem nur die Uhr tickte. Immerzu.
    «Sie wollen damit sagen, daß ich nichts glaube?» fragte Emmenberger,
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