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Der Verdacht

Der Verdacht

Titel: Der Verdacht
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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außerdem.»
    Der Arzt schwieg. Langsam erhob er sich und setzte sich auf den Operationstisch.
    Über ihm zeigte die Uhr drei Minuten vor zwölf, zwei Minuten vor zwölf, zwölf.
    «Sieben Stunden», kam es flüsternd, fast unhörbar vom Bett des Kranken her.
    «Zeigen Sie mir nun Ihren Glauben», sagte Emmenberger. Seine Stimme war wieder ruhig und sachlich und nicht mehr leidenschaftlich und hart wie zuletzt.
    Bärlach antwortete nichts.
    «Sie schweigen», sagte der Arzt traurig. «Immer wieder schweigen Sie.»
    Der Kranke gab keine Antwort.
    «Sie schweigen und Sie schweigen», stellte der Arzt fest und stützte beide Hände auf den Operationstisch. «Ich setze bedingungslos alles auf ein Los. Ich war mächtig, weil ich mich nie fürchtete, weil es mir gleichgültig war, ob ich entdeckt werde oder nicht. Ich bin auch jetzt bereit, alles auf ein Los zu werfen, wie auf eine Münze. Ich werde mich geschlagen geben, wenn Sie, Kommissär, beweisen, daß Sie einen gleich großen, gleich bedingungslosen Glauben wie ich besitzen.»
    Der Alte schwieg.
    «Sagen Sie doch etwas», fuhr Emmenberger nach einer Pause fort, während der er gespannt und gierig nach dem Kranken blickte. «Geben Sie doch eine Antwort. Sie sind ein Christ. Sie wurden getauft. Sagen Sie, ich glaube mit Gewißheit, mit einer Kraft, die den Glauben eines schändlichen Massenmörders an die Materie übertrifft wie die Sonne an Licht einen armseligen Wintermond, oder auch nur: mit einer Kraft, die gleich ist der seinen, an Christus, der Gottes Sohn ist.»
    Im Hintergrund tickte die Uhr.
    «Vielleicht ist dieser Glaube zu schwer», sagte Emmenberger, da Bärlach immer noch schwieg, und trat an des Alten Bett. «Vielleicht haben Sie einen leichteren, gewöhnlicheren Glauben. Sagen Sie: Ich glaube an die Gerechtigkeit und an die Menschheit, der diese Gerechtigkeit dienen soll. Ihr zuliebe und nur ihr zuliebe habe ich, alt und krank, das Abenteuer auf mich genommen, in den Sonnenstein zu gehen, ohne Nebengedanken an den Ruhm und an einen Triumph der eigenen Person über andere Personen. Sagen Sie doch dies, es ist ein leichter, anständiger Glaube, den man von einem heutigen Menschen noch verlangen kann, sagen Sie dies, und Sie sind frei. Ihr Glaube wird mir genügen, und ich werde denken, daß Sie einen gleich großen Glauben wie ich besitzen, wenn Sie dies sagen.»
    Der Alte schwieg.
    «Sie glauben mir vielleicht nicht, daß ich Sie freilasse?» fragte Emmenberger.
    Keine Antwort.
    «Sagen Sie es auf gut Glück hin», forderte der Arzt den Kommissär auf. «Bekennen Sie Ihren Glauben, auch wenn Sie meinen Worten nicht trauen. Vielleicht können Sie nur gerettet werden, wenn Sie einen Glauben haben. Vielleicht ist dies jetzt Ihre letzte Chance, die Chance, nicht nur sich, sondern auch Hungertobel zu retten. Noch ist es Zeit, ihm anzuläuten. Sie haben mich und ich habe Sie gefunden. Einmal wird mein Spiel zu Ende sein, irgendwo wird einmal meine Rechnung nicht stimmen. Warum soll ich nicht verlieren? Ich kann Sie töten, ich kann Sie freilassen, was meinen Tod bedeutet. Ich habe einen Punkt erreicht, von dem aus ich mit mir wie mit einer fremden Person umzugehen vermag. Ich vernichte mich, ich bewahre mich.»
    Er hielt inne und betrachtete den Kommissär gespannt. «Es ist gleichgültig», sagte er, «was ich tue, eine mächtigere Position ist nicht mehr zu erreichen: sich diesen Punkt des Archimedes zu erobern, ist das höchste, was der Mensch erringen kann, ist sein einziger Sinn im Unsinn dieser Welt, im Mysterium dieser toten Materie, die, wie ein unermeßliches Aas, aus sich heraus immer wieder Leben und Sterben erzeugt. Doch binde ich – das ist meine Boshaftigkeit – Ihre Befreiung an einen lumpigen Witz, an eine kinderleichte Bedingung, daß Sie mir einen gleich großen Glauben wie den meinen vorweisen können. Zeigen Sie her! Der Glaube an das Gute wird doch wenigstens im Menschen gleich stark sein wie der Glaube an das Schlechte! Zeigen Sie her! Nichts wird mich mehr belustigen, als meine eigene Höllenfahrt zu verfolgen.»
    Nur die Uhr hörte man ticken.
    «Dann sagen Sie es der Sache zuliebe», fuhr Emmenberger nach einigem Warten fort, «dem Glauben an Gottes Sohn zuliebe, dem Glauben an die Gerechtigkeit zuliebe.»
    Die Uhr, nichts als die Uhr.
    «Ihren Glauben», schrie der Arzt, «zeigen Sie mir Ihren Glauben!»
    Der Alte lag da, die Hände in die Decke verkrallt.
    «Ihren Glauben, Ihren Glauben!»
    Die Stimme Emmenbergers war wie aus Erz,
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