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Der unbeugsame Papagei

Der unbeugsame Papagei

Titel: Der unbeugsame Papagei
Autoren: Andrej Kurkow
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schweigend die Spuren und erkannte plötzlich deutlich die weichere Spur eines Fußes mit Schuhwerk.
    „Hier!“, rief er Waplachow zu, der nicht weit entfernt stand. „Da ist einer!“
    Dmitrij kam zu ihm und betrachtete die Spur.
    „Sie sind es wirklich“, sagte er nach einer Weile. Aber es lag keine Freude in seiner Stimme.
    „Dann fahren wir ihnen vielleicht hinterher? Und suchen sie?“, schlug Dobrynin vor.
    Dmitrij schwieg.
    „Auf gar keinen Fall!“, meldete der Panzerfahrer sich zu Wort. „Wir haben keine Karte, der Treibstoff reicht dafür nicht. Wir müssen nach Bokajgol fahren!“
    Sie kletterten wieder in den Panzer. Die windlose Stille wurde vom Dröhnen der Kampfmaschine durchbrochen, die durch die Wegschneise weiterkroch und dabei an zwei Stellen den breiten Streifen der menschlichen Spuren zermalmte.
    „Hör mal, wieso gehen sie eigentlich barfuß?“, fragte Dobrynin Dmitrij über den Motorenlärm hinweg.
    „Das ist eine alte Legende“, antwortete Waplachow. „Die Urku-Jemzen sind kein nördliches Volk. Sie kamen aus dem Süden, um das Glück zu suchen. Urku-Jemzen suchen immer das Glück. Und ein Volk kann das Glück nur mit bloßen Füßen suchen gehen. Auf die Jagd kann man Pelzstiefel anziehen, aber das Glück suchen – nur barfuß. Das bedeutet, sie sind wieder losgezogen auf Glücksuche …“
    „Haben sie das denn schon früher gemacht?“, fragte Dobrynin.
    Dmitrij seufzte tief.
    „Ja, als ich noch nicht geboren war. Da kamen sie hierher, nach Chulajba …“
    Dobrynin nahm die angebrochene Spiritusflasche wieder zur Hand und hielt sie dem Urku-Jemzen hin. Dieser trank einen Schluck, ohne auch nur das Gesicht zu verziehen, und gab sie dem Volkskontrolleur zurück. Dobrynin trank gleichfalls.
    ‚Was für ein seltsames Volk!‘, überlegte er, während er die Flasche wieder in die Kiste stellte. ‚Barfuß im Schnee das Glück suchen?‘ Befremdet schüttelte er den Kopf.
    Der Spiritus rann dem Volkskontrolleur ins tiefste Innere hinunter und erwärmte alles auf seinem Weg. Dobrynins Kehle brannte angenehm.
    Der Panzersoldat sah sich um, blickte den Volkskontrolleur fragend an, und der begriff. Er nahm die Spiritusflasche wieder zur Hand – nur noch ein kleiner Rest war darin – und hielt sie dem Panzerfahrer hin. Der Panzerfahrer trank und stellte die leere Flasche zurück auf den eisernen Boden der Maschine.
    Dobrynin spürte, wie die Wärme ihm in die Beine lief, die Venen anfüllte und wieder aufstieg. Eine süße Schwere drückte ihn in den unbequemen Sitz. Er schloss die Augen, und das Dröhnen der Kampfmaschine wurde plötzlich leiser.
    Vor seinen geschlossenen Augen begann gleichsam ein Film, und sanfte Musik mischte sich mit dem Sausen des Windes. Ein Schneesturm trieb grosse Flocken durch die Straßen des Dorfes Kroschkino. In diesem Traum sah sich Dobrynin selbst, zu Fuß, auf dem Weg nach Hause.
    Als er so die Straße entlang ging, hörte er auf einmal, wie jemand schrie: „Es hat ihn erschlagen! Es hat den Vorsitzenden erschlagen!“ Da bog Dobrynin zum Haus des Vorsitzenden ab und ging näher, dort hatte sich schon eine Menschenmenge um etwas versammelt, und an Stelle des Hauses gab es nur noch Trümmer. Plötzlich kam ein Rotarmist von den Trümmern her und sagte laut, so dass alle es hörten: „Hier ist es! Schaut!“ Er hob mit beiden Händen einen schwarzen Stein hoch, von der Grösse eines Menschenkopfes.
    Zur selben Zeit flüsterte jemand Dobrynin von hinten zu: „Frohe Weihnachten, Pawel Aleksandrowitsch, frohe Weihnachten!“
    Dobrynin drehte sich um, da stand ein ihm vollkommen unbekannter Genosse in schwarzer Lederjacke.
    „Ich bin Atheist!“, antwortete Dobrynin ihm flüsternd.
    „Ja, sehen Sie, das überprüfen wir gerade, Genosse Dobrynin!“, sagte dieser Mensch.
    Hier sah Dobrynin, dass mit dem, der ihn überprüfte, etwas Unbegreifliches vor sich ging. Die ganze Gestalt begann zu zittern und durchsichtig zu werden, bis sie sich schließlich im Schneetreiben auflöste.
    Dobrynin blickte sich um und hielt nach ihm Ausschau.
    Und er sah, dass derselbe Genosse in der Lederjacke sich über den erschlagenen Vorsitzenden beugte, der im Schnee lag.
    Es kam Dobrynin so vor, als würden sie sich unterhalten. Als erteilte der Vorsitzende gleichsam letzte Anweisungen. Und der Genosse in der Lederjacke lauschte und nickte.
    Da hatte Dobrynin auf einmal genug. Ihm fiel ein, dass er in der Tasche seines Bauernpelzes Fruchtbonbons für seine Kinder bei sich
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