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Der Traumhändler

Der Traumhändler

Titel: Der Traumhändler
Autoren: Augusto Cury
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auch wenn sie ihren Tod detailliert planen. Er wusste, dass sie, wenn sie die Verzweiflung ihrer Lieben und die unfassbaren Konsequenzen ihres Selbstmords sähen, zurückschrecken und sich wehren würden. Er wusste, dass kein Abschiedsbrief eine solche Tat rechtfertigen kann. Der Mann auf dem Hochhausdach hatte seinem einzigen Sohn einen Brief hinterlassen, in dem er versuchte, das Unerklärliche zu erklären.
    Er hatte auch schon mit Psychiatern und Psychologen über seine Selbstmordgedanken gesprochen. Er war untersucht und analysiert worden, hatte Diagnosen erhalten und verschiedenste Ansichten über Störungen in seinem Hirnstoffwechsel gehört, und er war ermutigt worden, seine Konflikte zu überwinden und gegenüber seinen Problemen neue Perspektiven einzunehmen. Aber nichts von alldem hatte ihn, den starren Intellektuellen, berühren können. Keine dieser Behandlungen oder Erklärungen hatte ihn aus seiner emotionalen Sackgasse befreit.
    Obwohl völlig unzugänglich, war er nun zum ersten Mal von jenem Fremden verunsichert worden, der sich ihm hoch oben auf dem Gebäudedach entgegenstellte. Der Kleidung und dem ärmlichen Aussehen nach zu urteilen, handelte es sich um einen Bettler. Doch seine Worte zeigten, dass er ein Spezialist darin war, geistige Festungsmauern zu erschüttern. Was er sagte, war alles andere als beruhigend. Es schien, als wüsste er, dass es ohne Beunruhigung kein Hinterfragen gibt, und dass man ohne zu hinterfragen keine Alternativen findet, da der Horizont des Möglichen verhangen bleibt.
    Der lebensmüde Mann hielt es nicht mehr aus, und so wagte er es, dem Fremden eine Frage zu stellen; er hatte lange damit gezögert, da er seit Beginn der Konfrontation das Gefühl hatte, damit ein Minenfeld zu betreten. Und so geschah es denn auch.
    »Wer sind Sie?« Er wünschte sich eine kurze, klare Antwort, die natürlich nicht kam. Stattdessen musste er sich weitere Fragen anhören.
    »Wer ich bin? Wie können Sie es wagen, mich das zu fragen, wenn Sie noch nicht einmal wissen, wer Sie sind! Wie können Sie es sich anmaßen, Ihre Existenz vor einem entsetzten Publikum auslöschen zu wollen?«
    Der Lebensmüde versuchte, dem Mann, der ihn derart ins Gebet nahm, zu trotzen, und erwiderte in sarkastischem Tonfall: »Ich? Wer ich bin? Ich bin ein Mann, der in wenigen Augenblicken nicht mehr da sein wird. Und dann werde ich nicht mehr wissen, wer ich bin oder war.«
    »Also ich bin da anders als Sie. Sie haben es aufgegeben, nach sich selbst zu suchen, so als wären Sie Gott. Ich dagegen frage mich täglich, wer ich bin.« Und listig stellte er eine weitere Frage: »Und wollen Sie wissen, welche Antwort ich gefunden habe?«
    Der andere nickte verlegen, und der Fremdling fuhr fort: »Ich werde es Ihnen sagen, aber zuerst müssen Sie mir antworten. Welche philosophische, religiöse oder wissenschaftliche Quelle verleitet Sie zu der Annahme, dass der Tod das Ende der Existenz ist? Sind wir nichts als Atome, die zerfallen und nie mehr dieselbe Struktur bilden? Sind wir einfach nur gut organisierte Gehirne oder haben wir womöglich auch eine Psyche, die mit dem Gehirn koexistiert, doch seine Grenzen überschreitet? Welcher Sterbliche weiß das schon? Wissen Sie es? Welcher religiöse Mensch kommt, wenn er für seine Überzeugungen eintreten soll, ohne den Glauben aus? Welcher Neurowissenschaftler argumentiert ohne jede Spekulation? Welcher Atheist oder Agnostiker ist in seinem Diskurs über jeden Zweifel erhaben?«
    Der Fremde war offensichtlich ein Meister in der Methode des Sokrates, die Überzeugungen seines Gegenübers durch immer weitere Fragen aus den Angeln zu heben. Der Lebensmüde war durch diesen Beschuss völlig verwirrt. Eigentlich war er Atheist und nun musste er zugeben, dass sein Atheismus auf Spekulation fußte. Wie viele sogenannte »normale« Menschen hielt er mit unerschütterlicher Überzeugung rationalistische Vorträge gegen alles, was er als »esoterische Spinnerei« ansah, ohne darüber jemals ruhig und ideologiefrei zu debattieren.
    Dagegen befragte der Mann mit der zerschlissenen Kleidung und gedankenvollen Miene auch sich selbst mit derselben Schonungslosigkeit. Und nun, ohne von seinem Gegenüber eine endgültige oder auch nur provisorische Antwort auf seine Fragen abzuwarten, schloss er mit der Bemerkung: »Wir sind beide unwissend. Der Unterschied zwischen uns besteht darin, dass ich es zugebe.«

Überzeugungen werden erschüttert
    W ährend auf dem Gebäudedach große
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