Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Traumhändler

Der Traumhändler

Titel: Der Traumhändler
Autoren: Augusto Cury
Vom Netzwerk:
Aufruhr? Die Leute deuteten nach oben. Im zwanzigsten Stock, an der Brüstung des imposanten Gebäudes aus verspiegeltem Glas, stand sprungbereit ein Mann.
    Wieder wollte jemand seine an sich schon kurze Existenz vorzeitig beenden. Noch ein Mensch hatte den Plan gefasst, das Leben aufzugeben. Es waren tieftraurige Zeiten. Es starben mehr Menschen durch Selbstmord als in Kriegen und durch Mord. Die Zahlen verstörten all jene, die über sie nachdachten. Das Meer an Vergnügungen war unendlich geworden, aber auch so flach wie eine Pfütze. Viele finanziell und intellektuell Privilegierte lebten leer, gelangweilt und isoliert in ihrer Welt. Nicht nur die Elenden, sondern auch die Begüterten fielen dem Gesellschaftssystem zum Opfer.
    Der Lebensmüde auf dem Dach des Alfa-Hochhauses war ein vierzigjähriger Mann mit gut geschnittenem Gesicht, markanten Augenbrauen, fast faltenloser Haut und gepflegtem halblangem meliertem Haar. Seine Belesenheit und Bildung aus vielen Lehrjahren war zu Staub zerfallen. Keine der fünf Sprachen, die er beherrschte, war ihm nützlich gewesen, um mit sich selbst zu sprechen; keine hatte ihn in die Lage versetzt, die Sprache seiner inneren Gespenster zu verstehen. Eine Depression hatte ihm die Luft zum Atmen genommen. Er lebte ohne Sinn; nichts konnte ihn verzaubern.
    In jenem Moment schien ihn nur das Sterben anzuziehen. Dieses monströse Phänomen, das für gewöhnlich als Tod bezeichnet wird, war beängstigend und doch auch eine magische Erleichterung menschlicher Seelenqualen. Offenbar konnte nichts jenen Mann von dem Entschluss abbringen, seinem Leben ein Ende zu setzen. Er blickte nach oben, so als suchte er einen Freispruch für seinen letzten Akt, blickte nach unten und machte zwei schnelle Schritte, ohne sich darum zu sorgen, hinunterzustürzen. Durch die Menge ging ein entsetztes Tuscheln; die Leute glaubten, er würde springen.
    Einige Zuschauer kauten nervös an den Fingernägeln. Andere hatten sogar aufgehört, zu zwinkern, um ja kein Detail zu verpassen – zwar verabscheuen die Menschen den Schmerz, doch fühlen sie sich stark von ihm angezogen; sie fürchten Unfälle, Leid und Elend, können ihren Blick aber nicht davon abwenden. Obwohl der Ausgang jenes Akts den Beobachtern Beklemmung und Schlaflosigkeit bescheren würde, sträubten sie sich dagegen, den Schauplatz des Schreckens zu verlassen. Im Gegensatz zu den gespannten Umstehenden waren die im Stau feststeckenden Autofahrer ungeduldig und hupten unaufhörlich. Einige lehnten den Kopf aus dem Fenster und brüllten: »Spring endlich und hör auf mit dem Theater!«
    Die Feuerwehr und der Einsatzleiter der Polizei stiegen aufs Dach des Gebäudes und versuchten erfolglos, den Lebensmüden von seinem Vorhaben abzubringen. Angesichts dieser Niederlage wurde eiligst ein renommierter Psychiater herbeigerufen, der versuchte, das Vertrauen des Mannes zu gewinnen, und ihm ins Gewissen redete, er solle die Folgen seines Planes bedenken, doch ohne Erfolg … Der Selbstmörder fiel nicht mehr auf psychologische Kniffe herein; er hatte bereits vier vergebliche Therapien hinter sich, und nun schrie er drohend: »Noch ein Schritt und ich springe!«
    Er war sich nur eines sicher: Der Tod würde alle quälenden Gedanken zum Schweigen bringen, zumindest glaubte er das. Sein Entschluss stand fest, mit oder ohne Publikum. Er war auf seine Frustrationen fixiert, erlebte sein Unglück immer wieder neu und fachte damit seine Qualen an.
    Während sich dieses Drama auf dem Hochhausdach abspielte, tauchte plötzlich ein Mann in der Menge auf und bat darum, durchgelassen zu werden. Er sah aus wie einer der gaffenden Bankangestellten, war allerdings schlechter gekleidet, ohne Krawatte, mit einem verblichenen und fleckigen hellblauen Oberhemd unter einem verknitterten schwarzen Anzug, der schon lange nicht mehr gereinigt worden war. Sein angegrautes Haar hing ungekämmt über die Ohren, sein langer Bart war ungepflegt, seine Haut trocken und faltig. Man sah, dass er manchmal die Nacht im Freien verbrachte. Er war zwischen dreißig und vierzig, schien aber älter, und er sah keineswegs wie eine politische oder geistige Autorität und schon gar nicht wie ein Intellektueller aus. Er wirkte eher wie ein Unterprivilegierter statt wie eine Ikone des Gesellschaftssystems.
    Sein unattraktives Äußeres kontrastierte mit der Zartheit seiner Gesten. Sanft berührte er die Schultern der Umstehenden, lächelte und bahnte sich so den Weg. Die Leute konnten die
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher