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Der Traumhändler

Der Traumhändler

Titel: Der Traumhändler
Autoren: Augusto Cury
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ausstrahlte, der so unergründlich und gesellschaftlich so unattraktiv war. Als hätten seine Äußerungen noch nicht ausgereicht, verstärkte der Fremdling sein Bombardement noch und machte einen Ausflug in die Geschichte eines großen Denkers: »Charles Darwin rief in seinen letzten Lebensminuten, als er unter unerträglicher Übelkeit litt und seine Seele ausspie: ›Mein Gott!‹ Warum? Hatte er einen schwachen Charakter, da er angesichts seiner schwindenden Kräfte nach Gott rief? War er ein Feigling, weil er sich vom Schmerz bezwingen ließ und den bevorstehenden Tod plötzlich für unnatürlich hielt, obwohl seine Theorie auf der natürlichen Selektion beruht? Ist der Tod das Ende oder der Anfang? Verlieren oder finden wir uns darin? Speit die Geschichte uns als Akteure aus, wenn wir sterben, sodass wir nie wieder auftreten?«
    Der Lebensmüde erschrak und schluckte. Solche Gedanken waren ihm neu. Dass die Weltgeschichte mit seinem Selbstmord seine persönliche Geschichte so arglos wieder ausspeien könnte wie ein Baby die gerade getrunkene Milch, hatte er wirklich noch nie in Erwägung gezogen. Er war zwar Anhänger der Evolutionstheorie, kannte aber den Menschen Darwin und seine Zweifel nicht. Doch ob Darwin wirklich widersprüchlich und schwach gewesen war? Nein, das konnte nicht sein. Darwin hatte sein Leben nicht aufgegeben. »Er hing sicher mehr am Leben als ich«, dachte er.
    Der Lebensmüde hatte das Gefühl, dass der Mann mit den zahllosen Fragen ihm ungebeten den Frack des Hochmuts ausgezogen hatte. Er atmete tief ein, um sich zu beruhigen, so als versuchte er, mit der eingeatmeten Luft zuvor unbekannte Bereiche seines Geistes zu durchdringen. Dann antwortete er aufrichtig: »Nein, ich weiß es nicht. Darüber habe ich noch nie nachgedacht.«
    Der Fremde schob noch etwas hinterher: »Wir arbeiten, kaufen, verkaufen und knüpfen Beziehungen; wir sprechen über Politik, Wirtschaft und Wissenschaften, doch im Grunde sind wir spielende Kinder im Theater des Lebens, ohne jemals seine ganze Komplexität erkennen zu können. Wir schreiben Millionen von Büchern und lagern sie in riesigen Bibliotheken, sind aber wirklich nichts als Kinder. Über uns wissen wir fast nichts. Wir sind Milliarden von kleinen Kindern, die gedankenlos auf diesem eindrucksvollen Planeten spielen.«
    Der Lebensmüde hielt die Luft an und begann, sich seine Geschichte und Identität ins Bewusstsein zu rufen. Julio Lambert – so sein Name – konnte schnell und scharf denken. In seiner kometenhaften akademischen Laufbahn hatte er seinen Master und seinen Doktor mit Höchstnoten gemacht. Als Mitglied vieler Prüfungskommissionen hatte er auch die Arbeiten anderer beurteilt und Examenskandidaten mit seiner beißenden Kritik eingeschüchtert. Er war immer extrem selbstherrlich gewesen und erwartete von seinen Mitmenschen, um seine Intelligenz zu kreisen wie Motten um das Licht. Doch nun war er der hilflose Prüfling eines zerlumpten, gestrengen Prüfers. Angesichts seiner Ängste und seiner mangelnden Weisheit fühlte er sich wie ein kleinlautes Kind. Aber zum ersten Mal ärgerte er sich nicht schwarz, weil er als kleiner Junge behandelt wurde, sondern genoss das Eingeständnis der eigenen Winzigkeit. Jetzt empfand er sich nicht mehr als jemand, der vor dem eigenen Ende steht, sondern sah sich als wieder erwachendes menschliches Wesen.

Die Verluste
    W ahnsinn kann nur behandelt werden, wenn er seine Maske fallen lässt. Und Julio versteckte sich hinter seiner Redegewandtheit, seiner kulturellen Bildung und seinem akademischen Status. Nun begann er, seine Verkleidungen abzulegen. Ein langer Weg lag vor ihm.
    Am Horizont ging die Sonne unter. Und auf dem Hochhausdach verflog der Gedanke an Selbstmord. In diesem Augenblick sagte der Mann, der Julio gerettet hatte, mit tief bekümmerter Stimme: »Zwanzig!«
    Julio fragte irritiert: »Warum nennen Sie immer wieder Zahlen, während wir uns unterhalten?«
    Sein Gegenüber antwortete nicht sofort, sondern ließ den Blick über den Himmel schweifen, an dem mehrere Lichter aufleuchteten, andere aber verloschen. Er seufzte, und es schien, als wollte er überall gleichzeitig sein, um sie wieder zu entzünden. Dann wandte er Julio das Gesicht zu, schaute ihn aufmerksam an und sagte sanft: »Warum ich Zahlen aufsage? Seit wir hier oben auf dem Dach stehen, haben bereits zwanzig Menschen ihre Augen für immer geschlossen. Zwanzig Menschen haben es aufgegeben, zu leben, anstatt sich zur Wehr zu
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