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Der Traumhändler

Der Traumhändler

Titel: Der Traumhändler
Autoren: Augusto Cury
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ihm über das Gesicht, und er versuchte ungeschickt, sie mit dem Handrücken wegzuwischen. Niemand, der ihn als autoritären Professor kannte, wusste um seine nicht verheilten Wunden.
    »João Marcos, mein Sohn, ist ins Drogenmilieu abgeglitten. Er hat schon mehrere Klinikaufenthalte hinter sich. Wütend hat er mir vorgeworfen, dass ich nie mit ihm gespielt hätte und ihm kein Freund und Begleiter gewesen wäre. Inzwischen lebt er weit weg von hier und spricht nicht mehr mit mir.
    Um es kurz zu machen: Seit meinem fünften Lebensjahr bin ich immer wieder im Stich gelassen worden! Manchmal war es allerdings auch meine eigene Schuld…«
    Langsam begann Julio zu begreifen, wie er seine Masken ablegen konnte.
    Nun zogen plötzlich Bilder vom Vater an seinem inneren Auge vorbei, die bisher verschüttet gewesen waren. Er erinnerte sich auch daran, dass er nach dessen Tod wochenlang Tag und Nacht nach ihm gerufen hatte.
    Julio war voller Wut auf seinen Vater aufgewachsen, dem er nie verziehen hatte, in seinem emotionalen Käfig gefangen gewesen zu sein, ohne einen Gedanken an den Schmerz des Sohnes zu verlieren.
    Und der ließ jetzt seinen Gefühlen freien Lauf. Die qualvolle Vergangenheit war offensichtlich stärker als jede noch so rasante Hochschulkarriere. Seine Bildung hatte Julio weder flexibel gemacht noch entspannt. Er war wie eingegipst, steif und gleichzeitig impulsiv. Bei keinem Psychiater oder Psychologen hatte er je seine Rüstung abgelegt. Häufig hatte er sie heftig kritisiert, weil er ihre Interpretationen infantil fand, unter seinem intellektuellen Niveau. Es war im Grunde aussichtslos gewesen, ihn zu überzeugen.
    Nachdem Julio seine Geschichte nun derart offengelegt hatte, verschloss er sich wieder, da er fürchtete, dass sein Gegenüber ihn mit oberflächlichen Ratschlägen und nutzlosen Deutungen überschütten würde. Doch der Fremde tat nichts dergleichen. In einer Situation, in der gerade dies unmöglich schien, sagte er sanft und scherzend: »Mein Freund, du steckst wirklich ziemlich in der Klemme.«
    Julio lächelte schwach. Eine solche Antwort hatte er nicht erwartet. Die Ratschläge blieben aus. Anschließend bewies der Fremde, dass er zwar seinen Schmerz nicht nachfühlen konnte, sich aber auf dem Gebiet der Verluste gut auskannte: »Ich weiß sehr genau, was es bedeutet, jemanden oder etwas zu verlieren! Es gibt Momente, in denen die Welt über uns zusammenbricht und wirklich keiner uns versteht!«
    Während er sprach, wischte er sich ebenfalls die Tränen aus dem Gesicht. Vielleicht waren seine Wunden genauso tief oder sogar tiefer als jene, von denen er gerade gehört hatte.
    Julio fragte gerührt: »Sagen Sie mir: Wer sind Sie?«
    Die Antwort war ein wohlwollendes Schweigen.
    »Sind Sie Psychologe oder Psychiater?« Inzwischen wähnte sich Julio einem ungewöhnlichen Fachmann gegenüber.
    »Nein«, antwortete der Fremde mit fester Stimme.
    »Sind Sie Philosoph?«
    »Ich schätze die Welt der Ideen, aber Philosoph bin ich nicht.«
    »Sind Sie ein religiöser Führer?« Vielleicht war der Eindringling ja ein katholischer, protestantischer, islamischer oder buddhistischer Geistlicher …
    »Nein!«, antwortete der Mann wieder mit sicherer Stimme.
    Julio wurde nun ungeduldig: »Sind Sie verrückt?«
    »Wahrscheinlich«, antwortete sein Gegenüber mit einem kleinen Lächeln. Jetzt war Julio völlig verwirrt.
    »Wer sind Sie? Sagen Sie es mir!«, fragte er eindringlich.
    Der Fremde wurde von der Menge der Schaulustigen gespannt beobachtet, die aber den Dialog auf dem Gebäudedach nicht hören konnte. Der Psychiater und die Einsatzleiter von Feuerwehr und Polizei hatten ihre Ohren gespitzt, bekamen zu ihrem Leidwesen jedoch auch nicht alles mit.
    Die Reaktion des geheimnisvollen Mannes auf Julios Hartnäckigkeit war verstörend. Er breitete die Arme aus, streckte sie in die Höhe und rief: »Wenn ich die Kürze meiner Existenz im unendlichen Fluss der Zeit bedenke und mir klarmache, wie viel vor mir war und nach mir sein wird, dann enthüllt sich mir meine eigene Winzigkeit. Wenn ich bedenke, dass ich eines Tages in die Stille des Grabes fallen und von der Unendlichkeit verschlungen werde, verstehe ich, wie beschränkt ich bin. Wenn ich aber meine Grenzen hinnehme, bin ich kein Gott mehr und werde frei, um einfach nur Mensch zu sein. Ich trete aus dem Zentrum des Universums heraus, um auf unbekannten Wegen zu wandern …«
    Diese Worte waren zwar keine Antwort auf Julios Fragen, aber dennoch sog
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