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Der Traumhändler

Der Traumhändler

Titel: Der Traumhändler
Autoren: Augusto Cury
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setzen, genau wie Sie. Menschen, die früher einmal gescherzt, geliebt, geweint und gekämpft haben, hinterlassen jetzt Schmerz im Gedächtnis derer, die bleiben.«
    Die extreme Einfühlungsgabe dieses Mannes war Julio schleierhaft. Wer war er? Was hatte er erlebt, um derart feinfühlig zu sein? Erfolglos versuchte der Intellektuelle, den Eindringling zu durchschauen. Aus den Augenwinkeln bemerkte er dann, dass dieser weinte. Bei einem so starken Mann war diese Reaktion überraschend. Es schien, als empfände er den unbeschreiblichen Schmerz der Kinder von Selbstmördern nach, die sich immer wieder fragen, warum der betreffende Elternteil sein Leid nicht um ihrer willen ertragen hat. Oder er hatte sich in die Innenwelt von verwaisten Eltern hineinversetzt, die sich, obwohl sie häufig für ihr Kind da gewesen waren, nun voller Schuldgefühle fragen, was sie ihm gegenüber versäumten. Oder aber der Eindringling weinte im Gedanken an die eigenen Verluste.
    Jedenfalls war Julio von den Worten wie von den Tränen des anderen völlig entwaffnet und begann nun eine Reise in die eigene Kindheit, die ihn so tief erschütterte, dass er ebenfalls in Tränen ausbrach. Er, der Verstandesmensch, weinte plötzlich in aller Öffentlichkeit und zeigte seine Verletzungen.
    »Mein Vater hat oft mit mir gespielt; er hat mich geküsst und mich seinen lieben Sohn genannt …«
    Er seufzte laut und erlaubte sich nun, auszusprechen, was er bisher sogar vor seinen engsten Freunden verborgen gehalten hatte, Erlebnisse, die verschüttet, doch weiterhin lebendig waren und die seine Art und Weise, das Leben zu deuten, beeinflussten: »… aber er hat mich verlassen, als ich noch klein war, ohne irgendeine Erklärung.« Er machte eine kurze Pause und fuhr dann fort: »Ich saß im Wohnzimmer und schaute einen Zeichentrickfilm an. Plötzlich hörte ich aus seinem Zimmer einen lauten Knall. Erschrocken lief ich hin und sah ihn blutend auf dem Boden liegen. Ich war erst sechs! Laut schrie ich um Hilfe, aber meine Mutter war nicht zu Hause. Ich lief zu den Nachbarn und war so verzweifelt, dass es einen Moment dauerte, bis sie mich überhaupt verstanden. Mein Leben hatte kaum begonnen, und schon verlor ich meine Kindheit, meine Unschuld. Meine Welt fiel in sich zusammen. Von da an hasste ich Zeichentrickfilme. Ich habe keine Geschwister. Nach dem Tod meines Vaters musste meine Mutter arbeiten gehen. Sie hat tapfer gekämpft, um mich durchzubringen. Aber dann hat sie Krebs bekommen und ist gestorben. Da war ich zwölf. Anschließend lebte ich bei verschiedenen Onkeln und Tanten, wo ich mich immer als Fremder fühlte. Als Jugendlicher war ich schnell aggressiv. Familienzusammenkünfte mochte ich nicht, was nicht verwunderlich ist, denn ich wurde wie ein Dienstbote behandelt und musste den Mund halten.«
    So hatte Julio eine ungesellige, schüchterne und intolerante Persönlichkeit herausgebildet, die sich hässlich und ungeliebt fühlte. Um sich nicht selbst zu zerstören, hatte er seine Konflikte durch Lernen kompensiert, es auf die Universität geschafft und war ein glänzender Student geworden. Tagsüber musste er Geld verdienen, aber abends saß er im Hörsaal und nachts und an den Wochenenden vergrub er sich in die Bücher.
    Mit nie verwundenem Ressentiment fügte er hinzu: »Aber ich überholte alle, die sich über mich lustig machten, wurde gebildeter und erfolgreicher als sie. Ich war ein brillanter Student und später ein respektierter Wissenschaftler. Ich wurde beneidet, manchmal auch gehasst, und hatte viele Bewunderer. Ich heiratete und bekam einen Sohn, João Marcos. Aber ich glaube, ich war weder ein guter Ehemann noch ein guter Vater.
    Die Zeit verging, und vor einem Jahr habe ich mich in eine Studentin verliebt, die fünfzehn Jahre jünger ist als ich. Ich habe sie verführt, mit großzügigen Geschenken überhäuft, mein Konto überzogen und Kredite aufgenommen. Dann war ich völlig verschuldet, und sie hat mich verlassen. Ich bin im Boden versunken. Meine Frau hat von dem Verhältnis erfahren und mich ebenfalls verlassen. Als sie ging, habe ich gemerkt, dass ich sie noch liebe; ich wollte sie nicht verlieren! Ich habe versucht, sie zurückzuerobern, aber sie hat die Nase voll von mir – einem pessimistischen, deprimierten und auch noch bankrotten Intellektuellen, der nie zärtlich zu ihr gewesen ist.«
    Julio ließ seinen Tränen nun freien Lauf. Das letzte Mal hatte er so geweint, als seine Mutter gestorben war. Die Tränen liefen
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