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Der Traum des Schattens

Der Traum des Schattens

Titel: Der Traum des Schattens
Autoren: Lena Klassen
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jeden Augenblick nutzen musste, dass ein guter Soldat die Zeit zwischen den Kämpfen mit Entspannung und Spiel zubrachte. Der Tod wartete draußen, und man durfte ihn nicht zum Sieger erklären, bevor er gewonnen hatte. Man konnte höchstens versuchen, ihn zu vertreiben, indem man sich dem Leben hingab. Das war die Aufgabe des Lichts: zu leuchten, selbst wenn schwarze Gewitterwolken die Sterne verdeckten, wenn die Nacht dunkel war wie nie.
    Wann würde ihr Kampf weitergehen?
    Anders als in Budapest gab Hanna dieser Ort unter dem weiten Himmel das Gefühl, unendlich viel Zeit zu haben, Zeit für alles.
    Das ist ein Irrtum. Es wird nicht mehr lange dauern. Die Stunden verrinnen, nur noch ein Tag Aufschub, wenn wir Glück haben, noch eine Woche – oder bloß eine Stunde? Wir wissen es nicht.
    Gott, sie war so dumm gewesen!
    » Was ist mit Waffen?«, fragte sie. Jetzt wollte sie es genau wissen. » Übst du wieder mit dem Schwert?«
    » Ja«, sagte er. » Ich habe ein paar Mal mit Dávid gefochten. Nichts Ernstes, wir benutzen bloß Holzstangen. Dachtest du wirklich, dass ich mehrere Wochen brauche, um Radfahren zu lernen?«
    Es war noch nicht vorbei, noch lange nicht.
    » Mit einem Pferd und einer Holzstange willst du also gegen Kunun und seine Armee antreten? Wie in einem Ritterturnier?«
    » Notfalls ja«, sagte er, dann schüttelte er mit einem schiefen Lächeln den Kopf. » Ich habe noch keinen Plan«, gab er zu. » Als Mensch kann ich nicht nach Magyria zurück, außerdem müsste ich mir erst einen Überblick über die Lage verschaffen. Keine Sorge, ich habe aus meinen Fehlern gelernt. Ich werde nicht blindlings losstürmen.« Er hatte Akink nicht erobert, indem er kopflos gehandelt hatte; wenn er erst Pläne schmiedete, mussten seine Feinde sich in Acht nehmen. » Nicht mehr lange. Dann schlagen wir zurück.« Er ließ sich vom Pferderücken gleiten und fasste nach ihrer Hand. » Doch jetzt bist du erst mal dran.«
    » Was?«, quiekte sie entsetzt.
    » Deine erste Reitstunde. Na los, komm. Péter ist sehr sanft und ruhig. Du wirst ihn lieben. Es wird Zeit, dass du deine Vorbehalte endlich überwindest.«
    Damit hatte sie nun wirklich nicht gerechnet. » Aber… ich kann nicht!«
    » Ich helfe dir hinauf und führe dich nach Hause. Es gibt keinen Grund, zu Fuß zu gehen.«
    » Du genießt es nur, dass du das hier kannst und ich nicht!«
    » Was wäre so schlimm daran? Das hier ist meine Welt, Hanna. Es ist beinahe Magyria. Das Licht und die Weite und die Pferde… Es ist ganz anders, das brauchst du mir nicht zu sagen. Dort ist der Wald, keine Steppe. Trotzdem ist vieles gleich. Das Wilde, Urtümliche.« Er suchte nach Worten. » Das Magische.«
    » Ich weiß, was du meinst«, sagte sie leise.
    Damit ergab sie sich in ihr Schicksal.
    Alles tat ihr weh, als sie nach fünf Minuten unwürdigem Herumrutschen auf dem glatten Pferderücken endlich wieder festen Boden unter den Füßen spürte. Mattim ritt davon, und sie trat mit wackeligen Schritten ins kühle Zimmer.
    Adrienn saß wie so häufig in letzter Zeit über das Schachbrett gebeugt und schaukelte ihre Brille am Gestell hin und her. » Ich kriege dich noch«, sagte sie zufrieden.
    » Daran besteht wie immer kein Zweifel. Leider«, bedauerte Hanna und nahm gegenüber der alten Dame Platz. Sie liebte Kämpfe wie diesen– ganz und gar unblutig und harmlos.
    Wie ein Band aus Licht fühlte er den Fluss. Er badete in Licht. Er trank das Licht. Es stieg in unzähligen kleinen Bläschen vom Grund auf, wirbelte um die Fische herum, schwebte über der Oberfläche. Es war dasselbe Licht, das in Akink lockte und strahlte. Aber merkwürdigerweise tat es nicht mehr weh, jenes Licht, das aus der Burg herüberglomm und über der Stadt hing wie eine Nebelwolke. Stattdessen erfüllte ihn auf einmal tiefer, satter Frieden.
    Auch das hatte er gewusst. Er hatte gefühlt, dass die Wölfe so empfanden. Es ging nicht um Krieg, nicht um Sieg und Niederlage, nicht einmal mehr um Rache und Bestrafung.
    Der goldene Wolf sah hinauf zur Stadt. Es war seine Stadt – die Stadt der Schatten, die Stadt der Wölfe.
    Mattim schlug die Augen auf und starrte in die Dunkelheit des Zimmers. Fast jede Nacht kamen diese Träume zu ihm. Nein, keine Träume– Erinnerungen. Er war ein Wolf gewesen, aber als er die Wolfsgestalt verloren hatte, als Hanna ihn davon erlöst hatte, war die Sehnsucht geblieben.
    Bänder aus Gerüchen und Klängen ziehen sich durch die Luft. Die goldene Stadt leuchtet wie der
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