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Der Traum des Schattens

Der Traum des Schattens

Titel: Der Traum des Schattens
Autoren: Lena Klassen
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musste völlig ausgehungert sein. Wer immer das hörte, konnte nicht umhin, sich vorzustellen, wie es wäre, wenn sich Wolfszähne ins eigene Fleisch gruben.
    Kunun schien mindestens ebenso erfreut wie der Wolf. Vielleicht hätte dieser am liebsten genauso gelächelt, als ihm die Belohnung vor die Nase gefallen war. » Wir können gerne noch eine zweite Flasche leeren. Man soll mir nicht nachsagen, ich sei nicht großzügig.«
    » Ich bin hergekommen, um Mattim zu verraten. Demnach wäre es jetzt wohl zu spät, einen Rückzieher zu machen… aber es ist schwer. Viel schwerer, als ich dachte.«
    » Wir haben genügend Zeit«, sagte Kunun geduldig. » Schließlich bin ich unsterblich.«

Erster Teil
    Stadt der Nacht

1
    EIN UNBEKANNTER ORT AUF DEM LAND, UNGARN
    Staub wirbelte unter den Hufen der fünf Pferde auf, die über das Steppengras galoppierten. Sonnenlicht tanzte auf ihrem weißen Fell, der Wind spielte in den flatternden Mähnen. Der dunkel gekleidete Mann, der sicher auf den beiden hinteren Tieren stand, hielt die Leinen fest in der Hand, mit einem triumphierenden Lächeln überspielte er die Konzentration. Der Balanceakt sah leicht aus, fast spielerisch, während die Pferde über das weite Land stürmten. Der dunkelblaue Mantel des Csikós bauschte sich im Wind.
    Mattim lehnte sich über den Zaun der Koppel, um dem ungarischen Pferdehirten nachzusehen. Hanna erwartete, in seinen Augen dieselbe Sehnsucht zu finden, die dieser Anblick immer in ihm auslöste, stattdessen bückte er sich und kletterte zwischen den Brettern hindurch.
    » Was wird das?«, fragte sie entsetzt.
    » Heute ist der Tag. Heute versuche ich es auch, allerdings noch nicht mit fünf Pferden. Sagen wir, mit zwei.«
    » Was?« Sie starrte ihn ungläubig an.
    » Siehst du hier irgendwelche Zuschauer?« Er wies nach rechts und links.
    Die Vorstellungen für die Touristen waren längst vorbei, die Autos und Reisebusse abgefahren. Die Gäste, die in den kleinen Ferienhäusern wohnten, waren über das ganze Gelände verstreut, von ferne erklang das Schreien tobender Kinder.
    » Das meine ich nicht. Du kannst doch nicht im Ernst… Mattim, ist dir klar, wie gefährlich das ist?«
    Er pustete sich die blonden Haarsträhnen aus der Stirn.
    » Na ja«, gab er zu, » ich könnte mir alle Knochen brechen oder das Genick…« Dann lachte er. » Aber ich tu’s nicht, versprochen.«
    » Mattim, du kannst das nicht! Das sind Profis, die machen das seit Jahren!«
    Der Csikós kam gerade wieder zurück, die Schimmel dampften. Leichtfüßig sprang er ab und winkte. Er war jünger, als sie gedacht hatte, höchstens Anfang zwanzig. Kaum älter als Mattim, dessen graue Augen leuchteten. Vielleicht war es, weil sie sich ärgerte, aber diesmal musste sie an Staub, verwittertes Holz und schmutziges Fell denken. Manchmal sahen seine Augen aus wie der Himmel, doch der wölbte sich blau über der Puszta, von fernen Wolken in ein überirdisches Weißblau verfärbt, und hatte nichts mit Schmutz, Schweiß und Pferdeäpfeln zu tun.
    » Mattim, nicht!«
    Er schlüpfte durch den Zaun und wechselte ein paar Worte mit dem jungen Reiter. Hanna konnte es nicht fassen. Er wollte es tatsächlich versuchen!
    Sie hatten gekämpft und gelitten, und er wäre fast gestorben– wie konnte er nur nach all dem sein Leben dafür riskieren, Kunststücke auf einem Pferderücken auszuführen?
    » Mattim!«
    Der Reiter nickte ihm zu. Ein Griff in die Leinen, und Mattim stand breitbeinig auf den Kruppen der Schimmel. Er schwankte und grinste dabei, als wäre er im siebten Himmel.
    Der junge Mann ging hinüber zu Hanna, die starr vor Schreck am Zaun stand.
    » Szia. Oder sage ich besser Hallo? Du musst Hanna sein, hab schon viel von dir gehört. Ich bin Dávid.«
    Sie wunderte sich nicht einmal darüber, dass er ihren Namen kannte. » Sie dürfen das nicht zulassen! Er wird sich sämtliche Knochen brechen!«
    » Oh, ich glaube kaum. Bisher hat er sich ziemlich geschickt angestellt.«
    » Bisher? Was soll das denn heißen?«
    Völlig gelassen sah Dávid zu, wie sich sein kostbares Gespann unter Mattim in Bewegung setzte.
    » Er macht das nicht zum ersten Mal?«, hörte sie sich fragen.
    Sie hatten schon häufig zugesehen. Adrienns Haus, in dem sie Unterschlupf gefunden hatten, lag kaum zwei Kilometer von dem Reiterhof entfernt in einem kleinen Wäldchen, und sobald Mattim sich so weit von seinen Verletzungen erholt hatte, dass er wieder nach draußen durfte, hatte er diesen Ort zielsicher
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