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Der Traum des Schattens

Der Traum des Schattens

Titel: Der Traum des Schattens
Autoren: Lena Klassen
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Mond. Unter dem Nachthimmel ist Frieden.
    Er wälzte sich herum. Hanna schlief, ihr Atem ging gleichmäßig. Wie ein Schleier floss ihr dunkles Haar über das Kissen. Sie murmelte etwas, und er musste sich über sie beugen, um die Worte zu verstehen.
    » Was wollen Sie? Was tun Sie hier?«, flüsterte sie, ohne davon zu erwachen.
    Er fragte sich, wovon sie wohl träumte. Eine Zeitlang waren die Wölfe auch zu ihr gekommen, jede Nacht im Traum. Sie hatten sich in ihren Träumen getroffen, wenn er auf der Jagd war, und er erinnerte sich daran, wie Hanna über die Wiesen gelaufen war, lachend. In der Realität lachte sie weitaus seltener. Mit gerunzelter Stirn verfolgte sie alles, was er tat.
    Mattim schwang die Beine über die Bettkante und trat ans Fenster. Durch die Bäume hindurch schimmerte die Steppe, mondbeschienen, wie ein fremder, stiller Ozean. Ein leichter Wind wehte und raschelte in den Blättern.
    Er wusste, dass sie dort draußen waren. Schon seit Tagen. Die Schatten beobachteten ihn.
    Der Zeitpunkt war gut gewählt. Noch vor ein paar Wochen hätte er einen Angriff nicht überlebt, jetzt war er ausgeruht und gut erholt. Worauf warteten sie? Obwohl er mittlerweile recht gut in Form war, war er nie verletzlicher gewesen. Ein Mensch, den man nur allzu leicht umbringen konnte. Oder, er lächelte grimmig bei dem Gedanken, vielleicht auch nicht ganz so leicht. Die spielerischen Kämpfe mit Dávid brachten seinen Körper dazu, sich zu erinnern, die Arbeit mit den Pferden tat ihr Übriges. Manchmal fühlte er sich wie sie; er brannte darauf loszurennen. Das war immer noch der Wolf in ihm, das wilde Tier, das danach gierte, unter dem weiten Himmel frei zu sein.
    Die Stiege knarrte, als er ins Erdgeschoss hinunterstieg. Leichtfüßig sprang er über die untersten Stufen und richtete sich auf. In der kleinen Stube war es dunkel, nur ein schmaler Streifen Mondlicht fiel durch die vorgezogenen Gardinen.
    Er huschte zur Tür und öffnete sie. Der Geruch der Nacht war überwältigend. Es duftete nach Erde, nach Gras, Blumen und Getreide. Sogar die Pferde konnte er wahrnehmen, so weit entfernt sie auch waren. Er meinte, ihr Stampfen und Schnauben zu hören, während sie unruhig schliefen. Lauschend neigte er den Kopf, seine Ohren zuckten, und fast hätte er versucht, sie aufzustellen.
    » Seid ihr gekommen, um mich zu holen?«, fragte er. » Schickt euch Kunun– oder bist du es gar selbst, Bruder?«
    Vor ihm raschelte es, doch er wartete vergeblich darauf, dass etwas Dunkles aus der Nacht herauskam. Die Finsternis gab nichts preis.
    Mit bebenden Flanken lag der Hengst auf der Erde. Dávid zählte die Sekunden, bevor er ihn wieder aufspringen ließ. Gerade kam Laszlo von den Ställen her, hinter ihm die fünf Pferde, die als Nächstes an der Reihe waren.
    » Bald machen sie das auch bei mir«, sagte Mattim und nickte den Kindern zu, die ihn bewundernd anstarrten. Eine ganze Schar Zaungäste hatte sich eingefunden, auch wenn dies keine öffentliche Vorführung war, sondern nur das Training.
    » Du solltest dich nicht so vielen Leuten zeigen«, gab Hanna zu bedenken.
    Sie saßen beide auf dem Zaun und schauten zu, wie die Csikós die Koppel in eine Zirkusmanege verwandelten. Für Hanna jedenfalls war dies hier Zirkus– oder vielmehr etwas, das nicht in die moderne Zeit passte, ein Relikt, das man aus der Mottenkiste geholt hatte. Es war schön und beeindruckend, aber mit ihrem Leben hatte es nicht viel zu tun.
    Der Staub wirbelte in die Luft, dämpfte das Sonnenlicht. Es hatte etwas Unwirkliches. Kleine Wirbel aus Sand. Sie wünschte sich, diese Farben einzufangen, diesen Moment. Ein einzigartiger Augenblick löste den nächsten ab– die Hufe der Pferde, der Schweiß, die Gesichter der Reiter, Dávids anfeuernde Rufe, Laszlos starre Miene.
    Automatisch griff sie nach der Leica, die Adrienn ihr geliehen hatte. Die uralte Spiegelreflexkamera wurde ihr allmählich immer lieber. Es fiel ihr leichter, Mattim durchs Objektiv zu beobachten und sich dabei über ein gutes Bild Gedanken zu machen, es war wie ein Schutzwall vor ihren Ängsten, eine Mauer aus geschliffenem Glas.
    Die Welt dahinter war nicht Magyria und trotzdem magisch. Der Himmel über ihnen leuchtete in jenem feinen Blau, das ihn aussehen ließ wie eine umgestülpte Kristallschüssel. Leer und staubig führte die holperige Straße von der Farm fort durch die endlose Weite.
    Dávid winkte Mattim, der sofort vom Zaun sprang. Nie war er so braun gewesen. Dadurch
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