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Der Traum des Schattens

Der Traum des Schattens

Titel: Der Traum des Schattens
Autoren: Lena Klassen
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Weg entlang, aber als er sich aufrichtete und die Schultern straffte, warf es sofort den Kopf hoch und verwandelte sich in ein stolzes, ungezähmtes Ross. Es war, als wären die beiden ein einziges Wesen.
    » Mein Bruder hat gewonnen«, sagte er. » Er hat Akink. Er hat den Thron unseres Vaters gestohlen und aus meinem Volk eine Rotte finsterer Schatten gemacht. Derweil sitze ich in einer Welt fest, die nicht meine ist, in der mir immer noch alles fremd ist. Die Pferde aber sind mir vertraut. Wenn ich mit ihnen arbeite, weiß ich wieder, wer ich bin: der Prinz des Lichts, der sich auf den Kampf vorbereitet, der bald losziehen wird, um seine Stadt zu beschützen. Wenn ich mir beim Training das Genick breche, habe ich es nicht besser verdient, denn dann würde ich auch den nächsten Kampf nicht überstehen. Und dieser Kampf wird auf mich zukommen, das garantiere ich dir.«
    » Warum hast du mir das denn nicht gesagt?«
    » Ich wollte es dir heute sagen. Es dir zeigen. Ich konnte ja nicht ahnen, dass du gleich eingeschnappt bist und davonrennst.«
    » Tut mir leid.«
    Was hatte sie sich vorgestellt? Dass sie Ferien machten, sich erholten, eine Weile davon träumen konnten, der finsteren Welt der Schatten entflohen zu sein? Und dabei trainierte Mattim offenbar schon seit Wochen, um wieder in Form zu kommen. Um zu sein, was er immer gewesen war: ein Krieger. Seine grauen Augen wirkten in diesem Licht fast blau. Grashalme steckten in seinem blonden Haar.
    Oh Gott, dachte sie. Er ist ein Prinz. Ein Kämpfer. Ein Eroberer, der geborene Anführer. Und ich bekomme fast einen Herzinfarkt, wenn er ein paar Reiterkunststücke einübt. Ich sollte mir um mich Sorgen machen, nicht um ihn.
    » Bitte pass auf dich auf!«, entfuhr es ihr. Ein Satz, den auch Attila, jener kleine Junge, den sie ins Herz geschlossen hatte, oft genug zu hören bekommen hatte. Sie war nur als Au-pair in die Familie Szigethy gekommen, doch dann waren die Kinder, Attila und Réka, für sie wie Bruder und Schwester geworden. Vielleicht war sie wirklich das geborene Kindermädchen, aber Attila war neun– und Mattim doppelt so alt. Gerade rechtzeitig schluckte sie den nächsten Satz herunter. Ich will nicht, dass du dich verletzt!
    Mattim hatte sich in den vergangenen Monaten gut erholt. Trotzdem würde sie nie vergessen, wie er schwer verwundet in ihren Armen gelegen hatte. Nie würde sie jene Nacht loswerden, in der es auf Messers Schneide gestanden hatte, ob er überleben würde oder nicht. Um diesen Schrecken zu verarbeiten, würde sie wahrscheinlich Jahre brauchen. Immer noch war ihr, als könnte sich jederzeit ein Tor vor ihr öffnen, und dahinter würde nicht Magyria liegen, sondern ein Leben ohne Mattim, eine Welt, in der er tot war und nie zurückkommen würde.
    » Oh Gott«, meinte sie. » Ich hasse es, wenn ich mich aufführe, als wäre ich deine Mutter.«
    Manchmal schüttelte er den Kopf über sie, aber falls er sich genervt fühlte, ließ er es sich nie anmerken.
    » Ist es nicht schön hier?«, meinte er und beschrieb mit der Hand einen weiten Bogen. » Genieß es. Sag nicht immerzu, ich soll mich vorsehen. Auf dem Ohr bin ich taub. Frag meine Eltern, die können dir das bestätigen.«
    Wie selbstverständlich er die beiden erwähnte, als könnte man sie einfach anrufen und fragen. Dabei hatte weder Mattim noch Hanna eine Ahnung, was aus ihnen geworden war. Aus Elira, der Königin des Lichts, die auf einem Boot den Donua hinuntergefahren und in der Dunkelheit verschwunden war, und aus Farank, dem König von Akink, der sein Licht verloren hatte, als Mattim ihn in einen Schatten verwandelt hatte. So war die Finsternis über Magyria gekommen… Ob der König längst in den Fluss gesprungen war, um zu sterben? Oder irrte er durch die schwarzen Wälder Magyrias?
    Mattim hatte all das gewiss nicht vergessen. Dennoch konnte er, im Gegensatz zu ihr, alle Sorgen beiseiteschieben und sich auf das Problem konzentrieren, das vor ihm lag.
    » Wenn man auf fünf Pferden steht, nennt sich das ungarische Post«, sagte er. » Ich bekomme es hin, du wirst sehen.«
    Wie immer war er entschlossen, seine Aufgabe so gut wie möglich zu meistern, ganz gleich, ob es ums Fahrradfahren ging, um Schach oder ums Schreiben lernen. Stück für Stück eroberte Mattim diese ihm fremde Welt mit ihren Bräuchen und Geräten. Vielleicht lag es daran, dass er in einer Stadt aufgewachsen war, die sich permanent im Kriegszustand befand. Schon früh hatte er lernen müssen, dass man
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