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Lilien im Sommerwind

Lilien im Sommerwind

Titel: Lilien im Sommerwind
Autoren: Nora Roberts
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    Sie erwachte im Körper einer toten Freundin. Sie war acht, groß für ihr Alter, mit leichten Knochen und zarten Gesichtszügen. Ihr seidiges Haar hatte die Farbe von reifem Weizen und fiel anmutig über ihren schmalen Rücken. Ihre Mutter kämmte es jeden Abend voller Liebe, einhundert Striche mit der weichen, silbergefassten Bürste, die auf dem zierlichen Kirschholzfrisiertisch des Kindes lag.
    Der Körper der Kleinen erinnerte sich daran, sie spürte jeden langen, liebevollen Bürstenstrich. Sie kam sich dann immer vor wie eine Katze, die gestreichelt wurde. Sie erinnerte sich auch daran, wie das Licht über die Schachteln mit den Haarnadeln und über die Kristall- und Kobaltflaschen glitt und sich im silbernen Rücken der Bürste fing.
    Sie erinnerte sich an den Duft im Zimmer und konnte ihn sogar jetzt riechen. Gardenien. Bei Mama waren es immer Gardenien.
    Und im Spiegel konnte sie im Lampenlicht das blasse Oval ihres eigenen Gesichts sehen, so jung, so hübsch, mit nachdenklichen blauen Augen und einer glatten Haut. So lebendig.
    Ihr Name war Hope.
    Die Fenster und die Terrassentüren waren geschlossen, weil es Hochsommer war. Die Hitze presste ihre feuchten Finger gegen das Glas, aber innen war die Luft kühl, und ihr Baumwollnachthemd so gestärkt, dass es knisterte, wenn sie sich bewegte.
    Sie selbst hatte nichts gegen die Hitze, und sie ersehnte das Abenteuer, aber sie behielt diese Gedanken für sich, als sie Mama einen Gutenachtkuss gab. Ihre Lippen streiften die parfümierte Wange nur.
    Mama ließ stets im Juni die Läufer im Flur zusammenrollen und auf den Speicher bringen. Die dicken Piniendielen mit ihrer Schicht aus Bohnerwachs fühlten sich unter den bloßen Füßen des Mädchens glatt und weich an. Hope ging den Flur mit den einfachen Zypressenpaneelen und den goldgerahmten Gemälden entlang und dann die Wendeltreppe hinauf in das Arbeitszimmer ihres Vaters.
    Dort war der Duft des Vaters. Tabak, Leder, Old Spiee und Bourbon.
    Sie liebte diesen Raum mit den runden Wänden und den großen, schweren Ledersesseln, die die Farbe des Portweins hatten, den ihr Papa manchmal nach dem Abendessen trank. Die Regale an den Wänden waren mit Büchern und Schätzen voll gestopft. Sie liebte den Mann, der mit einer Zigarre und dem Whiskeyglas an seinem riesigen Schreibtisch über den Büchern saß.
    Die Liebe verursachte der Frau in dem Kind Herzschmerzen, sehnsüchtige, neidische Stiche - wegen dieser unkomplizierten und allumfassenden Liebe.
    Seine Stimme war laut, seine Arme waren stark und sein Bauch fühlte sich weich an, wenn er sie in eine Umarmung zog, die so ganz anders war als der sanfte, zurückhaltende Gutenachtkuss von Mama.
     
    Da ist meine Prinzessin,
    sie geht jetzt ins Königreich der Träume.
    Wovon werde ich träumen, Papa?
    Von Rittern und weißen Rössern und Abenteuern über dem Meer.
    Sie kicherte, ließ aber ihren Kopf noch ein bisschen länger als sonst an seiner Schulter liegen und schnurrte tief in der Kehle wie ein Kätzchen.
    Wusste sie es? Wusste sie, dass sie niemals wieder sicher und geborgen auf seinem Schoß sitzen würde?
    Dann wieder die Treppe hinunter, vorbei an Cades Zimmer. Für ihn war noch nicht Schlafenszeit, weil er vier Jahre älter und ein Junge war, der an Sommerabenden lange aufbleiben und fernsehen oder Bücher lesen durfte, solange er morgens pünktlich aufstand und seine Pflichten erledigte.
    Eines Tages würde Cade der Herr von Beaux Reves sein und selbst an dem großen Schreibtisch im Turmzimmer mit den Büchern sitzen. Er würde der Herr über die Angestellten sein, die Plantage und die Ernte überwachen und auf Sitzungen Zigarren rauchen und sich über die Regierung und den Preis für die Baumwolle beklagen.
    Weil er der Sohn war.
    Für Hope war das in Ordnung. Sie wollte nicht an einem Schreibtisch sitzen und Zahlen addieren müssen.
    Vor der Tür ihrer Schwester blieb sie stehen und zögerte. Für Faith war es nicht in Ordnung. Für Faith schien nie etwas in Ordnung zu sein. Lilah, die Haushälterin, sagte immer, Faith würde sich sogar mit Gott dem Allmächtigen streiten, einfach nur, um ihn zu erzürnen.
    Hope vermutete, dass das stimmte, und obwohl Faith ihre Zwillingsschwester war, verstand sie nicht, warum sie ständig an allem herumnörgelte. Gerade erst heute Abend war sie in ihr Zimmer geschickt worden, weil sie eine freche Antwort gegeben hatte. Jetzt war die Tür fest verschlossen, und es schimmerte auch kein Licht unter dem Türspalt
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