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Der Traum des Schattens

Der Traum des Schattens

Titel: Der Traum des Schattens
Autoren: Lena Klassen
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verloren.«
    » Réka ist tot«, sagte Mattim. » So unfassbar das ist.« Er wurde die Bilder nicht los. Kunun im leuchtenden Wasser … das Mädchen in der Glut … » Was Mónika betrifft, habe ich allerdings eine Theorie. Es ist die einzige Erklärung dafür, dass der Fluss wieder Licht hatte: Mónika war Wilders Lichtprinzessin. Sie hat ihn verwandelt, und das Licht ist zurückgekehrt, als es wieder einen Lichtprinzen gab. Genug Licht, um den Donua zu wecken, und da die Flüsse zusammenhängen, ist es schließlich auch hier angekommen.«
    » Dann hat Attila seine Mutter also wieder«, sagte Bartók. » Und einen neuen Vater. Gut zu wissen. Ich dachte schon, der arme Junge würde dort ganz allein feststecken, nur mit seiner Babysitterin und seinen Großeltern.«
    Er zog die Füße aus dem Wasser, denn die Haut war bereits rot von der Kälte. » Dann mache ich mich mal auf den Rückweg. Man sieht sich.«
    Mattim schloss die Augen. Die Sonne streichelte ihm übers Gesicht und küsste ihn auf die Lider.
    Wolfsgeheul erfüllte die warme Nacht. Ein zweites und gleich darauf ein drittes Rudel stimmten ein, noch weiter entfernt.
    Die Luft war voller Gerüche und Wunder. Seine Muskeln bewegten sich kraftvoll und mühelos. Das blühende Gras regnete in sein Fell, und die Sehnsucht packte ihn mit Macht. Der goldene Wolf wollte laufen, nichts als laufen, mit seinen Brüdern.
    Er öffnete die Augen. Gerade löste sich das Gold des Himmels auf und verwandelte sich in glühendes Rot. Die Sonne legte einen grandiosen Abgang hin, doch sein Herz war schwer.
    Das Pferd wurde ungeduldig und stupste ihn an.
    » Du willst nach Hause, stimmt’s?«
    Es war noch weit, sie würden wohl kaum vor Einbruch der Nacht zurück sein. Mattim wagte nicht, im Dunkeln zu reiten, denn der Boden war voller Löcher und Senken. Also führte er den Schecken an der Hand, während die Nacht sich weich über die Ebene breitete.
    Der Wallach spitzte die Ohren.
    » Was ist denn?«
    In der Ferne heulte ein Wolf. Mattim legte den Kopf in den Nacken und antwortete.
    Und dann… begann der Traum.
    Er rannte, leichtfüßig, auf vier Pfoten. Die Kraft seines Körpers erfüllte ihn mit ungeheurem Vergnügen. Das Gleichmaß seiner Sprünge war ein Fest. Tausend Wunder hielt die Nacht bereit. Über ihm ging der Mond auf, und in dem Licht erkannte er den anderen Wolf, riesig und schwarz, die Haarspitzen silbern überhaucht.
    Komm, schien er zu sagen. Komm, lauf mit mir. Folge mir, kleiner Bruder.
    Mattim wunderte sich nicht. In diesem Traum war alles möglich, auch dass er seinem Bruder begegnete. Gemeinsam rannten sie, waren sie die Herren der Nacht. Während oben die Sterne funkelten, glänzte das Licht in ihren Augen. Der schwarze Wolf lief voraus. Dann war etwas vor ihnen– ein Graben oder ein Bach–, und er sprang, langgestreckt. Mattim setzte ihm nach…
    Im nächsten Moment war alles anders: keine Steppe, sondern Wald, ein wilder Wald voller Gerüche. Sie rannten weiter, rannten wie der Wind, ließen die Meilen hinter sich, eine um die andere. So lange, bis die Stadt den Nachthimmel erhellte, jene Stadt, in der unzählige Laternen in den Straßen brannten. Vor ihnen spannte sich eine lange Brücke über den Fluss, die ein gewaltiger steinerner Löwe bewachte.
    » Willkommen in Magyria«, sagte Bela. Er schüttelte sich und stand als Mensch vor Mattim. Seine helle Haut schimmerte in der Nacht, schwarzes Haar fiel ihm auf die Schultern. Der goldene Wolf starrte ihn an, diesen vertrauten Fremden.
    » Verwandle dich. Es ist in dir, dein Körper weiß, wie es geht. Das ist dein Erbe als Kind dieses Landes.«
    Mattim tat es ihm nach und fühlte, wie seine bloßen Fußsohlen im Waldboden einsanken. » Es ist nur ein Traum«, sagte er. » Das weiß ich doch.«
    » Wo ist der Unterschied? Traum oder Realität… Das wird allgemein überschätzt. Wir sind in Magyria, Brüderchen. Ich habe doch irgendwo… ah, hier. Klugerweise bewahre ich immer ein paar Kleidungsstücke im Schilf auf, damit ich nicht ganz würdelos über die Brücke schreiten muss. Heute habe ich dir etwas mitgebracht.«
    Sie zogen sich an, und Mattim strich über den Stoff.
    » Hier, nimm auch den Umhang. Schließlich wollen wir, dass du nach etwas aussiehst, wenn du vor die königliche Familie trittst.«
    » Du…«, begann Mattim. » Wie…«
    » Wir sind geheilt, verstehst du? Wie könnten wir heil sein, wenn wir verloren hätten, was wir sind, was wir sein müssen? Du hast dich an die Welt dort
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