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Der totgeglaubte Gott

Der totgeglaubte Gott

Titel: Der totgeglaubte Gott
Autoren: Mark Lilla
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Zeichen, die wir enträtseln müssen, um die Geheimnisse unserer Zeit aufzudecken. Oder ob wir vielleicht gar dem »ewigen Schweigen dieser unendlichen Weiten« anheimgefallen sind, die Blaise Pascal so bestürzten.
    Fantasievorstellungen von historischer Notwendigkeit lösen sich nur langsam auf. Wie die Vorstellung von der göttlichen Vorsehung sichern sie uns die Lesbarkeit der Welt. Denn es befriedigt kein tiefinneres Bedürfnis in uns, wenn wir erfahren, dass unsere grundlegendsten politischen Prinzipien als Reaktion auf die theologischen Herausforderungen des Christentums entstanden, dass sie auch im Westen scharf kritisiert wurden und dass die Versuchung, die politische Theologie wieder aufleben zu lassen, stets lebendig ist. Modernes politisches Denken und Handeln als Folge größerer, unpersönlicher Kräfte zu sehen hat etwas Erhabenes – und etwas Tröstliches, denn es befreit uns von der Verantwortung, unsere Alternativen klar zu benennen und uns für eine zu entscheiden. Es hilft uns zu vergessen, dass wir die Erben der Großen Trennung sind, wenn wir dies wollen.
    Ja, aber wollen wir dies denn? Das ist die Frage, die wir lösen müssen. Wir haben eine schwierige Erbschaft angetreten, eine, die sich mit der historischen Tatsache auseinandersetzen muss, dass die politische Theologie die ursprünglichste Form des politischen Denkens ist und für viele Völker auch heute noch eine ansprechende Alternative darstellt. Die vorangehenden Kapitel sollten uns verstehen helfen, weshalb dies so ist. Wenn wir die Bedingungen des politischen Lebens und Urteilens unter die Lupe nehmen, scheint der Geist, wenn ihm keine Grenzen auferlegt werden, sich nach oben und außen zu orientieren: nach oben, auf jene Dinge zu, die die menschliche Existenz übersteigen; nach außen, weil er das gesamte Dasein erfassen will. Nur durch Anstrengung und nicht zu knapp bemessene aktive Auseinandersetzung kann der Mensch dazu gebracht werden, die grundlegenden Fragen der Politik von der Theologie und der Kosmologie zu trennen. Nach einer Verbindung zwischen den beiden Seiten zu suchen ist keineswegs ein Rückfall in überholte Verhaltensweisen. Wie wir in diesem Buch gesehen haben, ist die Versuchung, die selbstauferlegten Grenzen der Großen Trennung zu durchbrechen und das politische Leben wieder einzugliedern in einen größeren theologischen oder historischen Zusammenhang, im Westen immer schon stark gewesen – nicht zuletzt, weil wir auch Erben der biblischen Tradition sind. Wie Gershom Scholem, der große Erforscher des jüdischen Messianismus, einst beobachtete, scheint die Erlösung eingebaut ins Uhrwerk des Lebens im Licht der Offenbarung. 171 Die politische Rhetorik in den Vereinigten Staaten z. B. ist durchsetzt mit endzeitlicher, messianischer Sprache. Nur viel Glück und eine starke Verfassung haben bisher verhindert, dass die politische Theologie sich im amerikanischen politischen Denken wieder ausbreitet.
    Darüber hinaus ist unsere Erbschaft auch deswegen schwierig, weil sie ein gerütteltes Maß an Selbsterkenntnis erfordert. Die Demarkationslinie zwischen politischer Theologie, welche sich an einem bestimmten Punkt immer auf die Offenbarung beruft, und politischer Philosophie, die versucht, das politisch Erstrebenswerte ohne diesen Rückgriff herbeizuführen, lässt sich nicht mehr wegwischen. Und jeder dritte Weg bringt auf psychologischer Ebene große Gefahren mit sich. Dazu gehört z. B. die theologische Rechtfertigung einer einzigen Form des politischen Lebens, was in der Geschichte der Menschheit immer wieder geschah. Eine andere Gefahr ist, dass politisches Versagen zu spiritueller Hoffnungslosigkeit führen kann. Um diese Erfahrung geht es in diesem Buch. Der totgeborene Gott der liberalen Theologen hätte die messianischen Sehnsüchte in den biblischen Glaubenstraditionen nie erfüllen können. Es war unvermeidbar, dass die Menschen sich von dieser Gestalt abwandten und erneut nach einem starken Erlösergott suchten, als sie von der Krise überfallen wurden. Das Tragische an der liberalen Theologie war ja, dass sie die religiösen Affekte, die sie weckte, spirituell nicht befriedigen konnte. Andererseits verstand sie auch nicht, sie politisch zu kontrollieren, wie Hobbes und seine philosophischen Nachfolger dies empfohlen hatten. Der Wasserlauf, der politische Philosophie und politische Theologie trennt, ist schmal, aber tief. Wer versucht, sich diese Wasser dienstbar zu machen, wird von spirituellen Kräften
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