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Der totgeglaubte Gott

Der totgeglaubte Gott

Titel: Der totgeglaubte Gott
Autoren: Mark Lilla
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hat die liberal-demokratische Tradition weder ihre Auseinandersetzung mit der Religiosität des Menschen vorangetrieben, noch die Alternativen eingehender erkundet, die Rousseau und seine Nachfolger entwarfen. Das Studium der Religion wurde vom Studium der Politik abgekoppelt. Wer immer sich heute mit Politik beschäftigt, ist nicht mehr daran gewöhnt, sich zu fragen, was Religion eigentlich ist . Wenn es verschiedene Formen des religiösen Lebens gibt, wie beeinflussen sie das öffentliche Leben? Wie fallen ihre psychologischen Effekte auf einzelne Menschen und Gruppierungen aus? Was könnte in einer liberalen Demokratie zu einem gesunden öffentlichen Leben beitragen? Kann man akzeptieren, dass es solch einen Beitrag gibt, ohne auf die Gespenster der politischen Theologie und des politischen Messianismus zurückzugreifen? Wenn nicht: Welche Mechanismen müssen geschaffen werden, um religiöse Affekte zu lenken und einzudämmen?
    Erfolg führt immer zu Selbstgerechtigkeit. Und der Erfolg ist nicht von der Hand zu weisen: Die aktuellen liberalen Demokratien ermöglichen ein religiöses Leben ohne religiöse Zwistigkeiten und ohne Theokratie, was ein historischer Fortschritt ist. Doch Anpassung ist noch keine Einsicht. Obwohl Großbritannien und die Vereinigten Staaten stolz darauf sein können, Ideen wie Toleranz, Gewissensfreiheit und Trennung von Kirche und Staat gefördert zu haben, beruht ihr Erfolg auf einer einzigartigen Erfahrung mit protestantischen Sekten des 17. und 18. Jahrhunderts. Der anglo-amerikanischen liberalen Tradition fehlt es am Vokabular, um die psychische Komplexität ihres eigenen religiösen Erlebens zu beschreiben, vom Verhältnis zwischen Glauben und Politik in anderen Teilen der Welt ganz zu schweigen. Wir sollten uns daran erinnern, dass das fundierteste Werk über die Rolle der Religion im politischen Leben Amerikas aus der Feder eines Franzosen stammt, der bei Rousseau in die Lehre gegangen war: Alexis de Tocqueville. Seitdem tappen wir im Dunkeln.
    Im kontinentalen Europa, wo die politischen Prinzipien der liberalen Demokratie erst nach dem 2. Weltkrieg voll institutionalisiert wurden, finden wir weniger Selbstgefälligkeit als pessimistische Resignation. Die politischen Denker Europas gleich welcher Couleur sind heute unisono der Auffassung, dass das »Zeitalter der Religion« vorüber sei und sich keine politische Theologie mehr aufbauen lasse. Das Erstaunlichste an dieser Annahme, die stimmen kann oder auch nicht, ist zweifellos die Gewissheit, mit der sie gewöhnlich vorgetragen wird. Statt die Große Trennung als Gedankenexperiment zu sehen, dessen Erfolg von nicht vorhersehbaren historischen Ereignissen abhing, gefallen sich die klugen Köpfe Europas in einem mythischen Denken über die unpersönlichen Kräfte der Geschichte, die unsere Welt angeblich geschaffen haben. Sie sprechen von »der Moderne« oder »der modernen Epoche« in einer nahezu eschatologischen Sprache, als sei die Moderne ein Riss in der Zeit, der eine völlig neue und irreversible Epoche der menschlichen Erfahrung eingeläutet habe, mit einer einzigartigen Logik, Sprache und Denkweise. Nicht wenige sehen diesen Riss auch als Katastrophe. Sie ergehen sich in nostalgischen Fantasien von einer Vergangenheit, als die Politik noch von mystischem Eifer geküsst war, als die Gesellschaft noch inneren Zusammenhalt und eine reiche symbolische Ordnung besaß, als der Mensch noch glaubte und das politische Leben glanzvoll zelebriert wurde. Der Kulturpessimismus ist eine seit der Französischen Revolution im geistigen Leben Europas stark verwurzelte Tradition, unter Linken wie Rechten, unter Anhängern des weltlichen wie unter denen des religiösen Denkens. Er ist vor allem deshalb stark, weil er nicht widerlegbar ist. Wer sich in Europa dieser dunklen Sicht vom modernen Leben ergibt, wer nur die fortschreitende »Entzauberung der Welt« sehen will oder den Sieg der Vernunft und der menschlichen Unabhängigkeit, begeht denselben Denkfehler wie der Kulturpessimist. Er gibt sich einem Messianismus mit umgekehrten Vorzeichen hin, dessen Symbolik er vom biblischen Erlösungsversprechen auf den Lauf der Geschichte überträgt. Statt auf die bevorstehende Wiederkunft Gottes zu warten, beklagt oder feiert er seine kürzliche Abreise – passiv, wie vor einem Altar. Sein politisches Denken beschränkt sich darauf festzustellen, ob das moderne Leben von einer neuen Logik gesteuert wird, einem verborgenen Kodex von Symbolen und
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