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Der totgeglaubte Gott

Der totgeglaubte Gott

Titel: Der totgeglaubte Gott
Autoren: Mark Lilla
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eine Wahrheit zu verkünden, die uns auf jeder Seite des Evangeliums entgegenschreit: dass wir unser Leben ändern müssen. Und was schenkte das moderne Judentum einem jungen Juden, der einen Weg zum Glauben seiner Väter sucht? Es lehrte ihn, den »ethischen Monotheismus« zu akzeptieren, der alle biblischen Glaubenstraditionen vereint. Den zürnenden Gott der Propheten, seinen Bund mit dem jüdischen Volk und die strengen Gesetze, die er ihm mit auf den Weg gab, übersah es dabei tunlichst. Vor allem aber lehrte es die jungen Juden, dass es ihre oberste Pflicht sei, Gemeinsamkeiten mit dem Christentum zu suchen und in dem einen Land akzeptiert zu werden, dessen hohe kulturelle Ideale dem richtig verstandenen Judentum einzig gerecht wurden: Deutschland. Auf die entscheidende Frage, warum wir Christen oder Juden sein sollen, bot die liberale Theologie keine Antwort.
    Und so wurde die liberale Theologie in den Nachwehen des 1. Weltkriegs einfach hinweggefegt. Doch trotz der Katastrophe und trotz der Komplizenschaft des theologischen Establishments fand Hobbes ’ kluge Einsicht in die Notwendigkeit der Trennung zwischen theologischem und politischem Diskurs in der Weimarer Republik wenig Interesse. Die Sehnsucht nach einem unumstößlichen Glauben, nach einer neuen Offenbarung, die die Grundfesten der modernen Ordnung erschütterte, war einfach zu stark, der Hunger nach Erlösung zu brennend. Seit die liberalen Theologen die Idee der biblischen Politik salonfähig gemacht hatten, war die Bühne für diese Art von Entwicklung bereitet. Als nach dem 1. Weltkrieg der Glaube an die Erlösung durch bürgerliche Wohlanständigkeit und Assimilation zusammenbrach, warteten die radikalen Interpreten des Tagesgeschehens nur darauf, dem Wunsch nach Erlösung eine apokalyptische Färbung zu geben – eine Färbung, die den einzelnen Christen, das jüdische Volk, die deutsche Nation oder das internationale Proletariat in direkte Verbindung mit dem Göttlichen bringen würde.
    Ja, wir haben unsere Schwierigkeiten damit, Gott einfach sein zu lassen.
    Die Wiedergeburt des totgeglaubten Gottes ist eine demütigende Geschichte. Zumindest sollten wir das so empfinden. Keine gnostische Geschichte über die Kinder der Finsternis, die gegen die Kinder des Lichts aufstehen. Keine Geschichte, die die Lichtgestalten aus dem selbsterwählten Schlummer reißen soll. Es ist vielmehr die Geschichte einer Auseinandersetzung, die vierhundert Jahre lang intensiv geführt wurde. Von ernsthaften Männern, die sehr wohl verstanden, was auf dem Spiel stand, und Gründe für ihre jeweilige Position nannten. Die Auseinandersetzung über Religion und Politik endete keineswegs mit dem Heraufdämmern der Moderne oder der Aufklärung, mit der Amerikanischen oder der Französischen Revolution. Auch nicht mit der Geburt der modernen Gesellschaft oder irgendeinem anderen kryptisch-messianischen historischen Moment. Sie hörte nicht auf, weil sie nicht aufhören konnte. Aus dem einfachen Grund, weil sie eine Frage zum Gegenstand hat, der jede Gesellschaft sich stellen muss: ob sie ihre politischen Angelegenheiten im Lichte der göttlichen Offenbarung ordnen will oder ihren Weg ohne Rückgriff auf eine solche geht.
    Das Demütigendste an der ganzen Geschichte ist vielleicht die Kraft, die die frühen Kritiker der Großen Trennung entfalteten. Zu lesen, was Rousseau oder Hegel über Religion schreiben, ist sehr viel anregender als das, was wir bei Hobbes oder Hume lesen, die in der Religion einzig eine Reaktion auf die Unwissenheit und Furcht der Menschen sehen. Rousseau aber sah den religiösen Geist in seiner ganzen Widersprüchlichkeit, voller Neugier und Moral, Hoffnung und Verzweiflung. Er erkannte die Wahrheit, die Hegel in aller Ausführlichkeit darstellte, nämlich dass jede Zivilisation, die wir kennen, sich aus der Religion entwickelt hat, und dass die Religion für einen sozialen Zusammenhalt sorgt, den anscheinend keine andere Kraft herzustellen vermag. Dass diese Erkenntnis seine Leser dazu verleitete, eine andere wichtige Einsicht zu vernachlässigen – nämlich dass religiöser Eifer eben diese sozialen Bande auch zerreißen kann – macht sie nicht weniger richtig.
    Eines der großen Paradoxa moderner Politik ist es ja, dass sie dem Phänomen Religion und seinen politischen Auswirkungen umso mehr Aufmerksamkeit widmen muss, je weniger sie sich auf die göttliche Offenbarung beruft. Hobbes, Locke und Hume hatten dies erkannt, doch seit dieser Zeit
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