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Der totgeglaubte Gott

Der totgeglaubte Gott

Titel: Der totgeglaubte Gott
Autoren: Mark Lilla
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Glaubens war, dann musste im messianischen Fanatismus, im apokalyptischen Fieber jener Zeit eine andere Kraft am Werk sein. Und so begannen die Philosophen damals, sich neue Fragen zu stellen, indem sie auf die psychologischen Wurzeln des Glaubens zurückgriffen. Was bringt den Geist überhaupt zur Religion? Wie kann das Nachdenken über den wahren Gott umschlagen in den mörderischen Wunsch, in seinem Namen zu töten? Warum sind manche Regierungsformen in der Lage, diese Impulse zu lenken, während andere sie geradezu hervorzubringen scheinen? Gab es denn einen inneren Zusammenhang zwischen religiöser und politischer Gewalt? Und würde sich ein Ausweg aus der theologisch-politischen Krise der Christenheit bieten, wenn man diesen Zusammenhang offenlegte?
    Von den Philosophen, die sich mit diesen Problemen beschäftigten, war Thomas Hobbes zweifellos der radikalste – radikal vor allem, weil die Antworten, die er fand, so simpel waren. Wenn wir die Idee akzeptieren, dass der Mensch eine bedürftige Kreatur ist, hilflos Furcht und Unwissenheit ausgesetzt, dann ließe sich Hobbes zufolge leicht erklären, warum der Mensch an Gott glaubt, warum er zur Gewalt neigt, wie sich sein Glaube manipulieren lässt und warum Europa in so viele kriegerische Auseinandersetzungen versunken war, deren Wurzel derlei eschatologische Impulse waren. Er dachte, wir könnten eine neue politische Philosophie begründen, die bei diesen offensichtlichen und beobachtbaren Tatsachen über die menschliche Natur ansetzte, statt auf ein Fantasiebild von der ewigen Verbundenheit zwischen Gott, Mensch und Welt zurückzugreifen. Diese politische Philosophie würde sich nicht mehr mit Gott als Schöpfer des Menschen befassen. Sie würde vielmehr den Menschen als gläubiges Wesen in den Blick nehmen. Dieser Perspektivenwandel würde die christliche politische Theologie aus dem europäischen Gedächtnis löschen und Spekulationen über das Göttliche ein für alle Mal von der wissenschaftlichen Beobachtung menschlichen Verhaltens trennen. Hobbes ging davon aus, dass sein wissenschaftlicher Ansatz nur mit einem absolut regierenden Herrscher umsetzbar wäre, der die absolute Macht über jede Form öffentlicher Glaubensbezeugung hätte. Seine Nachfolger allerdings kamen bald dahinter, dass es durch Toleranz und religiöse Vielfalt ebenso möglich sei, ein friedvolles, vernunftbasiertes politisches Leben zu erreichen, das zum allgemeinen Wohlstand beitrug. Mit der Zeit wurde Hobbes’ Leviathan also liberalisiert und demokratisiert.
    Hatte Hobbes nun aber recht, was die Beweggründe für den menschlichen Glauben an Gott angeht? Möglicherweise nicht – doch in diesem Fall handelte es sich um einen fruchtbaren Irrtum, denn er eröffnete Europa und dem Rest der Welt einen völlig neuen Weg des politischen Denkens. Dass der politische Diskurs vom theologischen Diskurs getrennt werden konnte, war ein neuer Gedanke und wie geschaffen, um einem spezifischen Problem der christlichen Geschichte zu begegnen. Doch weil diese Errungenschaft nahezu jeder Tradition politischer Theologie zuwiderlief, hatte sie weitreichende Auswirkungen. Dabei ergab sich ihre Wirkmächtigkeit gerade aus ihrer Bescheidenheit. Die Große Trennung beruhte nicht auf atheistischen Positionen oder förderte diese. Sie lehrte einfach nur die intellektuelle Trennung von Fragen über die Grundstruktur der Gesellschaft von Fragen über Gott, die Welt und das spirituelle Los des Menschen. Für viele Gläubige der biblischen Traditionen, heute wie im 17. Jahrhundert, kommt die Trennung zwischen politischem Denken und göttlicher Offenbarung einem Verrat an Gott gleich, dessen Gebote für alle gelten. Die intellektuelle Trennung dieser Sphären ist für sie schwer zu begreifen, außerdem fordert sie auch eine gewisse theologische Anpassung. Gott ist vor diesem Hintergrund abstrakter zu denken, nicht als der große Architekt, der eine genaue Blaupause des sozialen und individuellen Lebens vorzeichnet. Dieser Schritt der theologischen Anpassung ist für viele Religionen undenkbar und für alle gleichermaßen schwierig, auch für das Christentum. Denn die Große Trennung war nie eine vollendete Tatsache, nicht einmal im christlichen Europa, wo sie entstand.
    Überraschenderweise aber kam die Herausforderung, die den Lebensnerv der Großen Trennung am härtesten traf, nicht von den orthodoxen Gläubigen der biblischen Traditionen. Sie kam von modernen Philosophen und Theologen, die sich längst vom
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